Eine Haltung zum Nahost-Konflikt?

Eigentlich wollte ich keine politischen Kommentare mehr hier abgeben, aber angesichts der großen Tragödie, die sich wieder einmal vor aller Augen der Welt im Nahen Osten abspielt, kann ich nicht ohne.

Und ich muss gestehen: ich tue ich mich sehr schwer mit einer schwarzweissbasierenden klaren Haltung in dieser Angelegenheit!

Zumal ich die Entwicklung in der Region seit langem verfolge und es mir – wie so oft – scheint, dass die harten Gegenmassnahmen nichts – aber auch gar nichts bringen werden. Sie werden – genauso, wie es bisher erfolgt ist – nur die radikalen Kräfte beflügeln, das Blutvergiessen vermehren und den Konflikt noch weiter ausweiten. Auch wurde eine Eskalation in diesem Ausmass von Nahostspezialist*innen vorausgeahnt. Leider hat man sich entweder in zu großer Sicherheit gewähnt, oder man hat es einfach in Kauf genommen und sich schon lange auf die folgende kriegerische Auseinandersetzung vorbereitet. Nach dem Motto: „Pray for peace – prepare for war“.

Hamas und Hizbollah sind radikalislamistische Terrororganisationen und haben auch für mich keinerlei Legitimation, das palästinensische Volk zu vertreten. Das ist uns ja seit Jahren klar. Die Frage ist, was könnte sie politisch schwächen? Folgende Maßnahmen sind es wohl erwiesenermassen nicht:

  • 2 Millionen Menschen in Gaza leben seit Jahrzehnten im größten Freiluftgefängnis der Welt. Unter ihnen befinden sich vor allem wehrlose Kinder, Familien, ältere Menschen. Sie werden nun Opfer der Skrupellosigkeit der Hamas, aber auch der Ignoranz der Weltgemeinschaft, die sie den Vergeltungsschlägen der israelischen Armee aussetzt, ohne ihnen einen effektiven Evakuierungsplan anzubieten. Das ist völkerrechtswidrig – ob man das nun wahr haben mag, oder nicht.
  • Die Politik der harten Hand, die von Seiten Israels seit der feigen Ermordung Yitzak Rabin’s unvermindert durchgeführt wird, ist – komplementiert durch die stillschweigend geduldeten Landbesetzungen durch die Siedler im Westjordanland – ebenfalls völkerrechtswidrig.

Ich tue mich wiederholt schwer, Stellung zu beziehen neben Nationalfahnen und sonstigen Machtsymbolen. Lieber bekenne ich mich zur Solidarität mit der isreaelischen Opposition und allen Menschen in der Region, die mutig für den Frieden dort einstehen und dafür offen angefeindet werden. An die denkt man in Europa und im Westen am wenigsten.

Warum ich am Erfolg der harten Gegenoffensive zweifle? Ganz einfach: sie haben bisher auch nichts bewirkt! Den Amerikanern ist in der Sache am wenigsten zu trauen, nach dem, was sie nach 9/11 in Afghanistan und im Irak produziert haben. Dort haben sie nach etlichen Jahren des Krieges den Radikalistamist*innen sang und klanglos das Feld, und ihre Verbündeten vor Ort der Gewalt durch die Terroristen vor Ort überlassen. So wie die isreaelische Armee in den 90ern sich aus dem Westjordanland zurückgezogen und der Hizbollah einen politischen Triumph ermöglicht hat, ohne irgendeine nachhaltige Friedensstrategie.

Statt wildentschlossener Fahnenschwingerei braucht es effektive Friedenspolitik, die sich der Profitgier der Waffenindustrie und ihren Lobbies entgegensetzt. Nur so kann den Radikalislamisten das Handwerk gelegt werden. Leider zweifle ich sehr daran, dass das überhaupt erwünscht ist.

Benjamin Netanyahu hat noch nie aufrichtig dem Frieden zugearbeitet. Er hatte lange genug Zeit dazu gehabt, aber stattdessen hat er den Konflikt ständig angeheizt und auch die Hamas in ihrer Anfangszeit – als Pseudokorrektiv zum politischen Gegner PLO – bewusst unterstützt. Mit diesem Menschen kann im Nahen Osten nichts zu Gunsten eines nachhaltigen Friedens bewirkt werden. Ausserdem ist er ein korrupter Regierungschef, der einer Amtsenthebung nur deswegen entkommen konnte, weil er gemeinsame Sache mit den Ultrarechten im Lande macht und somit seine Immunität sichern kann.

Neben dem stehe ich nicht, sorry. Ich solidarisiere mich lieber mit all den unschuldigen Zivilist*innen auf beiden Seiten, die diesem menschenunwürdigen Konflikt seit Jahrzehnten zum Opfer fallen – all die Kinder, denen eine aussischtsreiche unbeschwerte Zukunft geraubt wird, auf die sie ein Menschenrecht haben, die Hinterbliebenen der Opfer auf beiden Seiten, den Geiseln und ihren Familien.

Das alles macht mich sehr traurig. Das zu äussern, ist mir ein dringendes Bedürfnis. Auch wenn mich einige wegen meines Bekenntnisses jetzt haten werden: ich finde es wichtig, sich zu seiner Menschlichkeit zu bekennen, bevor man sich zu etwas anderem bekennen kann. wie z.B. zu einem Gott, einer Nation, einem Volk, einer kulturellen Identität und zu all den Symbolen, die zu diesen Gehören – vor allem Nationalfahnen.

Der ganze Konflikt zeigt wieder einmal, wie überholt das Prinzip der nationalen und auch der religiösen Identitäen ist. Sie bieten kein tragfähiges Gerüst für unsere gemeinsame Zukunft und werden auch irgendwann passé sein, denke ich. Aber bis dahin werden sie noch eine Menge an Blut fordern, befürchte ich. Auch, was danach folgen soll, ist äusserst ungewiss und ist eben uns Menschen überlassen. „Wir“ müssen uns dafür entscheiden, in welcher Welt wir zukünftig leben wollen – vor allem müssen wir uns dafür entscheiden, sie zu erhalten.

In tiefer Trauer um alle Opfer des Nahostkonflikts und um die, die wohl leider noch folgen werden.

Triptonious Coltrane aka Tuncay Acar.

Wer produziert deinen Traum?

In der Zwischenzeit machten sich Traumwelten breit. Denn während all der Grausamkeiten die er die letzten Jahrhunderte erlebte, hat der Mensch nie aufgehört zu träumen. Träume von Einzelnen mutierten zu Massenproduktionen. Viele kennen es: wir haben Träume, von denen wir glauben, das sie einem individuellen Anpruch entspringen. Aber mal im ernst: das ist doch nur selten wirklich der Fall? Die meisten unserer Träume sind Fließbandware – produziert für die Massen. Und nur wenige können sie erfüllen. Aber alle Träumen wir weiter:

– den einen wurde ihr Lebensraum zerstört. Sie wollen nun ihre Heimaten verlassen und Richtung Westen ziehen. Sie träumen von einem sicheren Leben für die ganze Familie, von einem hohen Lebensstandard, wie sie ihn in mobilen Applikationen tagtäglich verfolgen. Viele von ihnen nehmen sogar nicht nur ihren eigenen, sondern den Tod ihrer gesamten Familie in Kauf – oft ertrinken sie auf der überfahrt jämmerlich im Mittelmeer.

– andere sind die Enkelkinder der alten Kolonialherren. Sie träumen von ihrer Identität, von ihrer Kultur, die untrennbar verknüpft sei mit Christentum, Humanismus und Zivilisation. Sie träumen davon, dass das alles zu ihnen gehört, wie die DNA in ihren Körpern. Sie träumen von einer Welt, die sich für sie nur zum guten entwickelt. Sie träumen von ewig wachsenden Märkten, vom Weihnachtsmann, vom Osterhasen und von Zimtlebkuchen. Sie werden wütend, wenn man ihnen auch nur einen Krümel von diesen Träumen streitig macht. Tod und Leid von Millionen von Menschen berühren sie schon auf humaner Ebene, aber sie wären insgeheim bereit, die Übel hin zu nehmen, nur um ihre kleinen Träume zu wahren und wenn es die eine Urlaubskreuzfahrt durch die Heimaten der Opfer ihrer Verschwendungssucht ist.

– ganz andere widerum sind die Gewinner*innen innerhalb der Weltordnung. Sie betreiben die Maschinen, mit denen grosse Träume produziert werden. Doch sind sie selber Getriebene, die bereit sind, für ihre ganz eigenen individuellen Träume große Opfer zu bringen. Sie haben den Anspruch, dass ihre Träume, Niemandes Träumen gleichen. Sie wollen einzigartig leben und auch sterben. Man könnte sie mit den zu Lebzeiten divinisierten Herrschern der Antike vergleichen. Sie wollen mit Superlativen assoziiert werden. Deswegen leben sie mit ihrem hart verdienten Geld im permanenten Extremzustand. Manche von ihnen setzen sich Lebensgefahren aus und bezahlen teuer dafür. Sie tauchen zum Beispiel in tausende Metern Tiefe, um im Rahmen einer extremtouristischen privaten Tauchmission das Wrack der Titanic zu betrachten und zahlen dafür ein Vermögen. Vielleicht wollen sie dadurch unsterblich werden, aber auch sie verrecken dabei in den Tiefen des Meeres jämmerlich. Wahrlich ein einzigartiger Tod! Das muß man ihnen lassen.

Alle beschriebenen Personen vereint jedoch die ewige Unzufriedenheit und die Angst, die sie sich gegenseitig und selber zuteil werden lassen. Dabei beschwören wir Menschen gerne die Rationalität, aber im wesentlichen bleiben wir tief verankert in der realen Absurdität unseres Alltags. Die Rationalität dient uns wohl nur dazu, uns gegenüber unserer Hybris zu legitimieren.

Dabei hätten wir es doch so sehr verdient, ehrlicher zu uns selbst zu sein.

Popopfer Winnetou

Seit der Sache mit den Rastazöpfen von Bern und dem Winnetou-Eklat ist das Thema kulturelle Aneignung plötzlich wieder ganz weit oben in der Öffentlichkeit angelangt. Die kollektive Identität der Mehrheitsgesellschaft ist eine sehr diffuse und hochsensible Angelegenheit. Da Rastazöpfe mittlerweile auch schon zum europäischen Alternativkulturgut gehören und Winnetou unser aller Jugendzimmer geziert hat, fließen natürlich gleich Tränen, wenn plötzlich ihre Legitimität hinterfragt wird. Das ist so ähnlich, wie bei einem Kleinkind, dem das Spielzeug weggenommen wird: das Resultat ist im schlimmsten Falle himmeljauchzendes Geheule. Und dieses Geheule wirkt fast schon wie eine reaktionäre Gegenoffensive der Mehrheitsgesellschaft durch die Selbststilisierung als „das größere Opfer“. Eskortiert durch einschlägige deutsche Boulevardblätter erhält diese Perspektive natürlich prompt auch wesentlich mehr öffentliche Resonanz.

Natürlich kann ich es sehr wohl verstehen, dass man nun bemüht ist, das Thema herunter zu kochen und ihm das erdrückende Gewicht nehmen zu wollen….das klingt in meinen Ohren
jedoch immer nach gutgemeintem Trost. Dieser bringt mit Verlaub leider nichts, denn die Sache ist wesentlich komplexer, als der/die VertreterIn der Mehrheitsgesellschaft es gerne hätte. Ich rate ja eher dazu, sich von falschen Versöhnungszeremoniellen zu verabschieden. Wenn, dann versöhnen wir uns, nachdem wir uns aufrichtig – und vor allem fair – gestritten haben. Es ist an der Zeit!

Als Erstes möchte ich sagen, dass ich die Popkultur als gesellschaftliches Phänomen sehr ernst nehme, denn ich weiß um ihr zerstörerisches Potential. Auch halte ich es für schwierig, sie inflationär zur Legitimierung von gesellschaftlichen Konsensprozessen zu bemühen. Denn Popkultur ist keineswegs ein neutraler Spielplatz für alle. Sie ist extrem weiß-dominiert. Deswegen hat für mich die ekklektische Habgier der „Raubritter“ – wie sich z.B. die US-amerikanische Rockband Steely Dan mal selbst genannt haben – keine Priorität.

Die Popkultur muss nicht bedient werden. Sie nimmt sich eh alles, was sie kriegen kann. Relevant für mich ist die Frage: „Was kann man sich zurückholen?“


Ich war zu Fasching stets „Cowboy“. Für mich war es normal, dass Indigene in den von mir heißgeliebten Western immer die Verlierer waren und in Massen abgeknallt wurden. Bis ich irgendwann von dem fatalen Unrecht erfuhr, dem sie zum Opfer gefallen waren. Danach waren Cowboys im Fasching für mich gegessen.

Als Kulturphänomen ist Karl May aus der deutschen Literatur leider nicht wegzudenken. Ich würde ihn trotzdem unseren Kindern nicht unkommentiert antun wollen, denn er spiegelt ein Weltbild wieder, dessen Problematik darin begründet liegt, dass wir mittlerweile – im Gegensatz zu ihm damals – die tragische Geschichte des Wilden Westens sehr gut kennen. So schön Pierre Briece auch war: Winnetou ist gesellschaftlich nicht tragbar.


Als eines der beliebten Anschauungsbeispiele zu dieser Debatte wird gerne Bob Marley herangezogen: sein Song Punky Reggae Party sei als Aufruf zum Stilmix zu verstehen, somit also auch als Legitimation für weisse Rastas. Vor allem ging es ihm aber eher um die Solidarität zwischen zwei marginalisierten Gruppen in einer postkolonialen Weltordnung. Auch hat keiner von The Clash jemals Dreadlocks getragen, denn sie waren eben Punks und sich dessen auch bewusst.


Die ideale Welt, in der wir alle gleich zu sein scheinen und gleichberechtigt kulturelle Elemente munter untereinander austauschen.
Sie hätte da vielleicht beginnen können. Aber die globale Entwicklung bis heute zeigt leider in die genau entgegengesetzte Richtung. Diese Friede, Freude, Eierkuchen-Welt ist eine Illusion geblieben, denn sie funktionierte nur für die „weltoffenen“ Whiteys. Als Drittweltmensch kannst du noch so weltoffen sein, du kriegst dafür nicht mal ein Visum.

Stattdessen hast du es mit einem Monster an ungeklärtem postkolonialen Erbe und mit äußerst rassistischen Strukturen zu tun. Und das wird noch sehr lange so anhalten. Face it! Deswegen werden Gegenforderungen jetzt direkter, härter und kompromissloser gestellt. Das heißt nicht, dass es sie vorher nicht gab. Es interessiert nur niemanden, wenn man sie nicht vehement genug einfordert.

Dass das für die VertreterInnen der Mehrheitsgesellschaft unangenehm ist, kann ich verstehen. Aber das Leben ist eben keine Schimmelrevue.

Ich würde mir nie anmaßen, weißen Dreadlocks die Bühne zu verweigern, aber ich bin auch nicht betroffen. Ich bin nicht Schwarz und habe mit Rasta-Kultur nichts zu tun. Was ich allerdings durchaus kann ist: „Empathie zu entwickeln“ und es durchaus zu verstehen, wenn Menschen die Ausschlachtung, Aneignung und Umformulierung ihrer hart erarbeiteten Gegenkultur mächtig auf den Senkel geht. Denn diese wird von der heiligen Popkultur seit jeher in leckere Donuts verarbeitet und um sie dann den unbedarften Kids einer Luxusgesellschaft feilzubieten. Die Wut, die das erzeugt, kann ich gut verstehen. Sie entspringt nicht der puren Lust an der schlechten Laune, sondern ist das Resultat von jahrhundertealtem Schmerz.

Mein Resümee ist: es wird nichts diffamiert, oder verboten. Dazu hat keiner die Macht, wir marginalisierten Gruppen der Gesellschaft schon gar nicht. Euren Winnetou nimmt euch auch so schnell niemand weg, auch wenn die Springer Presse davon überzeugt ist. Es wird lediglich versucht, auf Perspektiven der Unterprivilegierten hin zu weisen und eine Debatte anzuschieben, die von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist. Verschobene Machtverhältnisse nur zu benennen und mit dem Finger darauf zu weisen, hilft alleine nicht. Um sie effektiv angreifen zu können braucht es mehr Solidarität und auch Demut. Wir alle müssen das weiß-dominierte Grundkonzept der Popkultur wahrnehmen und begreifen. Statt zu heulen und zu lamentieren, sollte man den „Anderen“ zuhören und sie ernst nehmen. Nur so wird Popkultur sexier für uns alle, nicht nur für euch!

Dieser Text wurde in einer etwas vereinfachteren Form am 20.09.22 als Beitrag von Tuncay Acar für den Zündfunk / Bayern 2 verfasst und gesendet. Er war als Gegenmeinung zu folgendem Beitrag des Zündfunk Redakteurs Michael Bartle verfasst worden: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/kulturelle-aneignung-in-der-musik-100.html.

Deutsche Lieblingsbegriffe Spezial: Begriffsstutzigkeit

Die weissen Jungs haben’s wieder mal begriffen. Bisher hatten sie’s ja auch schon immer begriffen, denn, wenn’s darauf ankam erklärten sie uns in langen, gründlichen Ausführungen, warum sie das N-Wort durchaus benutzen dürfen und sollen. Jetzt hingegen erklären sie dir genau das Gegenteil mit der selben klugscheisserischen Ägide und suhlen sich in demütiger Einsicht. Dabei reden sie genau so viel wie vorher, monologisieren herum und vor allem: sie erzählen nur von sich selbst.

Im selben Atemzug problematisieren sie ihre Elterngeneration, wälzen die Schuld auf diese ab, erklären sich selbst zum Spezialisten und machen sich auf, um den vielgeschimpften konservativen „Alten Weissen Mann“ abzuholen? Das heisst: die weissen Jungs kümmern sich um die weissen Jungs. Alles gut, sollen sie tun. Das schlimme ist nur, wenn sie mich anrufen, um mich um Rat und meine Perspektive bitten. Dann wird’s haarig.

Wenn ich ihnen aber aus reinem Gutmenschentum meine Perspektive erkläre, dann unterbrechen sie mich mit dem unverschämten Argument: ich würde monologisieren und wäre zu emotional.

Dabei will ich dem guten Mann nur erklären, dass er kein Halleluja-Superduper-Sonderfall ist, sondern dass es zigtausende von seiner Sorte gibt und wenn nur ein Bruchteil von denen bei mir anrufen würde, um persönlich gechoacht zu werden, dann hätte ich richtig viel zu tun. vor allem aber versuche ich ihm nach zu legen, dass es sich lohnen würde, seine Fresse zu halten und zuzuhören, damit er endlich mal was begreift. Das kapiert er dann nicht und fühlt sich angegriffen.

Meine Reaktion ist auch nicht wirklich Hip, muss ich gestehen. Aber ich bin eben auch nicht Hip. Wenn du bei mir anrufst, dann musst du auf sowas schon gefasst sein. Ich habe eben meine eigenen antirassistischen Therapiemethoden.

Daraufhin sage ich: das ist total ok, dass du dich angegriffen fühlst…das musst du aushalten…Wissen und Begreifen sind rein funktional komplett unterschiedliche Pänomene. Ich steh eher auf begreiflich machen.

Er sagt: Ja, ja, ok. Aber er begreifts trotzdem nicht. Vielleicht braucht er ein noch grösseres Leid, um dazu fähig zu sein. Don’t know. Ist auch nicht mein Business. Ich hol lieber Leute ab, die ihr Leben lang unter dieser Ignoranz gelitten haben und dadurch keine Gelegenheit hatten, sich zu verwirklichen. Ob alt oder jung ist mir auch scheissegal.

Liebe Mehrheitsgesellschaft: ich bin nicht euer „Antirassismus- und Hauptbahnhof-Spezialist“. Ich lebe auch nicht im Hauptbahnhofviertel. Ich lebe vielmer seit Jahrzehnten in einem geheimen Bunker unter dem Hauptbahnhof, wo ich auch geboren wurde. Euch erzähle ich aber natülich was anderes: Ihr findet mich in den Hipstercafes vom Glockenbach, wo ich seit über 30 Jahren sozialisiert bin.

Wenn ihr was über die sogenannten „Anderen“ erfahren wollt, dann geht zu ihnen und fragt sie. Sie fressen euch schon nicht. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, die freuen sich über Besuch.

Wenn ihr aber sagt. Nein, ihr könntet euch ja plump und falsch verhalten und die Menschen verstören, dann kann ich euch für ein Tageshonorar coachen. Der Kurs liegt noch gut: ca. 750 Euro (zzgl. MwSt.). Umsonst war gestern.

Bussi.

„Der Vater allen Übels“ – Gedanken zum Umgang Deutschlands mit seiner gesellschaftlichen Vielfalt

Vor 60 Jahren wurde das Anwerbeabkommen mit der Türei unterzeichnet, in dessen Zuge hunderttausende Menschen mit Arbeitsverträgen in der Tasche nach Deutschland kamen. Die meisten von ihnen kamen am Gleis 11 in München an und wurden von dort weiterverteilt an ihre Arbeitsstätten in ganz Deutschland.

Vielleicht werden sich einige von Euch erinnern: Im Jahr 2018 kam es zu gewaltsamen rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz. Der aktuell noch amtierende Heimat- und Innenminster hatte in der Folge eine lange Zeit geschwiegen. Es war die Zeit, als er noch seinen 69. Geburtstag mit 69 Abschiebungen von asylsuchenden Afghan*innen feierte.

Ich hatte mir von ihm damals sowieso kein besonders relevantes Statement bezüglich dieser Thematik erwartet.

Ich sollte mich leider irren!

Nach einer endlos scheinenden Zeit des Schweigens gab er dann schließlich folgendes Zitat von sich: „Die Migration ist die Mutter allen Übels“.

Ich verspürte für kurze Zeit den Ansatz einer Bestürzung, doch sie wandelte sich umgehend um in eine schwer zu bändigende Wut.

Ich wurde wütend, weil ich die Sinneshaltung, die dieser Satz wiederspiegelt seit sehr langer Zeit sehr genau kenne. Ich weiss, wieviel Ignoranz in ihm steckt,
Einfalt, Unwissen und Bewusstseinsmangel.

Die Opfer-Täter-Umkehrung, die hier stattfand ist nur ein Nebeneffekt.

Diese Sinneshaltung kennt nur die Endresultate kultureller Entwicklungen und feiert sich dafür in der Jetztzeit selber. Sie wird in einem elitären, bürgerlichen Millieu gelebt, dass sich auf die Errungenschaften des Humanismus beruft. Solche Menschen schliessen humanistische Gymnasien ab und wachsen auf mit den Dichter*innen und Denker*innen der Aufklärung, garnieren ihre Bildungserfahrung mit griechischer und römischer Mythologie. Sie Berufen sich auf die klassische Antike, sie Identifizieren sich mit ihr. Daher auch der Begriff der Mutter allen Übels, der ja direkt der griechischen Mythologie entnommen ist: er bezeichnet im Grunde die mythische Gestalt der Pandora, die erste Frau auf Erden, entstanden aus der List der eifersüchtigen Gött*innen, die den Menschen in einer Büchse alle großen Übel und Schlechtigkeiten gebracht haben soll. Das ist ein uraltes toxisches Frauenbild, dessen sich der Innenminister hier bedient. Das nur am Rande bemerkt.

Besagte Sinneshaltung hat Schwierigkeiten damit, die Grundlagen ihrer historischen Identität mit ihrer gegenwärtigen Situation zu verknüpfen. Denn wenn sie dies tun würde, dann würde der Innenminister dieses Landes wissen:

dass es ohne die Migration die Renaissance nie gegeben hätte.
dass es ohne sie die griechische Kolonisation und die Gründungen griechischer Stadtstaaten nie gegeben hätte,
dass es ohne Migration weder die Seidenstrasse, noch die Gewürzstrasse gegeben hätte,
dass es ohne Migration auch keine Handelskultur geben hätte können, auf der bekanntlich die Idee des Wirtschaftsliberalismus fusst.
dass es die Migration war, die unter anderem auch die Musikkultur über den Globus transportiert und somit ihre ständige Weiterentwicklung vorangetrieben hat.
dass es ohne die Migration von deutschen Wirtschaftsmigrant*innen zum Beispiel einen wesentlichen Teil der Neuen Welt, wie wir sie heute kennen, nicht gegeben hätte.
Und das sind nur einige wenige Beispiele. Die Liste lässt sich unendlich lang fortsetzen.
Ein Mensch, der einen bestimmten Bildungsstand aufweist müsste deswegen eigentlich wissen, dass die Migration nicht die Mutter allen Übels, sondern vielmehr der Ursprung jeglicher Kultur auf dieser Welt ist.

Ich könnte mich damit begnügen den Herrn Innenminister und Ähnlichgesinnte auf diese Kette von Wissenslücken hinzuweisen und mich zuversichtlich der gemeinsamen vielfältigen Zukunft in Deutschland zuwenden (die unausweichlich kommen wird!).

…wenn da nicht so schicksalshafte Ortsnamen wären, die mich tagtäglich begleiten: Rostock/Lichtenhagen, Mölln, Solingen, wenn der NSU Komplex und unzählige andere rechtsradikale gewaltvolle Übergriffe auf Menschen mit Migrationshintergrund nicht gewesen wären.

Im Lichte all dieser historischen Realitäten dieses Landes kann ich mich leider nicht mit einer Würdigung der Leistungen all dieser Menschen begnügen, die vor fast 60 Jahren hier am Gleis 11 am Münchner Hauptbahnhof ankamen, ihre Leben hier aufbauten, unglaubliches leisteten unter einem enormen gesellschaftlichen Druck und einer enormen Leistungserwartung, im Schatten täglicher Diskriminierungen und Segregation.

Menschen, die seit Generationen zum grossteil in Schichtarbeit und oft auch in mehreren parallel laufenden Jobs ihre Existenz hart erarbeiten, ihre Steuern zahlen, ihren wirtschaftlichen und kulturellen Betrag leisten in dieser Gesellschaft.

…sich aber gleichzeitig um die Bildung ihrer Kinder sorgen mussten, weil sie jeden Tag ihrer Benachteiligung und Diskriminierung Zeuge wurden, in einer Gesellschaft, die nach 60 Jahren erst Ansatzweise in der Lage ist, damit zu Beginnen, die Potentiale von Menschen mit vielfältigen Sprach-, Lebens- und Gesellschaftserfahrungen zu nutzen, einzusehen, dass diese Menschen seit Jahrzehnten mit Haut, Haaren, Leib und Seele hierher gehören, dass sie die Gesellschaft und auch das Wesen Deutschlands mitgestalten und mitentwickeln.

Nein ich kann mich nicht damit begnügen, dies alles festzustellen und uns allen ins Bewußtsein zu rufen.

Ich muß leider einen Schritt weiter gehen:

Für mich stellten die besagten Worte des Innenministers der Bundesrepublik Deutschland nicht nur einen dreisten Diskriminierungsversuch dar, den ich in gewohnter Manier mit dem Handrücken vom Tisch fegen könnte. Nein! Diese Worte empfand ich als eine Drohung!

Nicht für mich. Plumpe Drohungen machen mir schon lange keine Angst mehr. Ich hatte keine Angst um mich.

Ich hatte Angst um unsere Kinder, unsere Älteren, unsere Familien, unser aller friedliches Zusammenleben. Darum habe ich mich gesorgt. Ich habe ein wesentliches Bedürfnis empfunden, das vielen Menschen in sehr hohen politischen Positionen in diesem Land zu fehlen scheint: Verantwortung für diese Gesellschaft.

Und es machte mich Wütend, denn ich war mir leider dessen Bewusst, dass auf solche Worte Taten folgen würden.

Und es folgten Taten.

Es wurden junge unschuldige Menschen in Hanau aus dem Leben gerissen. Auch in Halle, wo eine Synagoge bei hellichtem Tag unverfroren angefriffen wurde. Ein Politiker in Kassel musste sein Leben lassen.

Dessen allen müssen wir uns Bewusst sein, wenn wir an dem heutigen Tag dem Anwerbeabkommen mit der Türkei gedenken, wenn wir uns über das Phänomen der Arbeitsmigration im Allgemeinen Gedanken machen.

Ich für meine Person schaffe den Sprung von der Opferposition herauf auf Bühnen und vor Mikrophone, bin einigermassen sicht-, -les und hörbar. Abertausende schaffen diesen Sprung nicht. All diesen Menschen will ich hier ein Sprachrohr sein: ihr seid nicht allein! Ihr werdet anerkannt! Ihr seid wichtig und ihr gehört hierher!

Aber die Wut und das Unverständnis alleine hilft nicht. Auch die gutgemeinte politische Geste hilft nicht. Worte helfen auch nicht.

Das einzige was hilft, ist der ehrliche, aufrichtige Wille, sich gegenseitig in erster Linie als Menschen an zu erkennen. Das ist die Grundlage aus der auch ehrliche Solidarität erwachsen kann. Wohlgemerkt: hier geht es nicht um Nächstenliebe! Es geht viel mehr um die Dringlichkeit und den Willen, eine zukunftsfähige Gesellschaft zu formen, in der wir kein einziges Potential verschwenderisch unserem gleichmut opfern und somit vergeuden, denn das können wir uns nicht leisten.

Wir sind Menschen. Wir sind einzigartig! Wir haben vieles erschaffen, aber nochmal soviel bedenkenlos zerstört. Wir tragen Verantwortung für unseren Lebensraum und können diese nicht abgeben. Auch nicht an Gott! Wir Schulden unseren folgenden Generationen einen wunderschönen, lebenswerten Planeten!

Unsere Würde verlangt es uns ab, dass wir uns dessen Bewusst sind – und zwar in jeder Sekunde, die wir Leben.

Das Gute setzt sich durch – die Debatte um die schwarzen Wurzeln des Techno

Das Gute setzt sich durch.
Das Gute ist Elvis Presley, Benny Goodman.
Das Gute ist nach all den Jahren schwer zu ertragen.
Elvis mit seinen peinlichen Karate Moves in Las Vegas.
Er kann ja nichts dafür. Er war ein netter Typ.
Das ist ja das Schlimme.

Das Schlechte aber waren all diejenigen, die die direkten Erben einer jahrhundertelangen Kultur des menschlichen Überlebenskampfes waren und sind – einer Kultur, die von Menschen geformt wurde, denen gar nichts anderes blieb, als sich auf expressiver Ebene Freiräume zu schaffen, denn sie hatten in dieser Welt lange Zeit sonst keinen Platz und keinen Raum. Er wurde und wird ihnen nicht gewährt, es sei denn, sie nehmen ihn sich.

Ungeachtet ihrer Unbeachtetheit und ihrer persönlichen Demütigung, bei manchen sogar des leiblichen Risikos, fuhren sie immer fort ihr Erbe zu hegen und zu pflegen. Und dann machten die Erben ihrer Peiniger*innen den Rock’n Roll daraus und feierten hedonistische Feste auf ihrem Rücken. Sie übernahmen den Ausdruck von Leid und Schmerz und übertünchten ihn mit ihren eigenen Teenager-Luxus-Weh-Wehchen und bemitleideten sich selbst.

Wahrscheinlich aus dem schlechten Gewissen, der aus dieser Vereinnahmung resultierte, entwickelten sie dann ein starkes Mantra, gegen das man sich lange Zeit nie traute aufzubegehren: Musik ist eine universelle Sprache! Musik gehört allen, kennt keine Grenzen, keine Kultur, keine Hautfarbe.

Das ist die Sinneshaltung des*r kolonialen, auch postkolonialen und neoliberalen Konsumenten*in: das Begehrte möglichst günstig erwerben, am besten stehlen und danach jeglichen Werteausgleich präventiv verhindern – keine Zugeständnisse, keine Reparation, keine Vergütung, keine Anerkennung. Stattdessen die Mär vom universellen Eigentum. Aber im Grunde gehört alles, was öffentliches Gewicht hat und vor allem materiellen Wert erzeugt, zumindest zu einem relevanten Anteil „uns!!“ – und wir sind in irgendeiner Form „weiss“, „gut“, „amerikanisch“, „europäisch“, „westlich“, „demokratisch“, „freiheitlich denkend“, früher nur „christlich“, jetzt auf einmal „der christlich-jüdischen Kultur zugehörig“….Irgendeine passende Verortung findet man dann schon.

Und wenn das irgendwann mal faktisch nicht mehr so sein sollte, dann werden wir zumindest alles Nötige tun, um uns an dem Anschein festzuklammern.

—-

Chuck Berry wollte man einmal sogar zu seinem eigenen Konzert keinen Zutritt gewähren, weil man nicht wahrhaben wollte, das Chuck Berry schwarz war.

Ella Fitzgerald
Miles Davis
Big Mama Thornton
Billy Holiday
Nina Simone
Little Richard
und…und…und…sie gehören jetzt uns allen!

Das alles kennt man ja schon. Aber aktuell ist eine Debatte um die schwarzen Wurzeln von House und Techno entbrannt. Der Journalist, Autor und Produzent Deforrest Brown Jr. wirbt für eine radikale Rückbesinnung der Technoszene auf ihre vergessenen schwarzen Wurzeln. Er kündigt an, in Kürze ein Buch über dieses Thema zu veröffentlichen.

https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/make-techno-black-again-100.html

Der Shitstorm ist groß.

In einem Social Media Chat musste ich lesen:“Techno erfunden zu haben, sei ihnen gegönnt. Vermutlich haben sie dazu allerdings einen von Weißen entwickelten Computer benutzt.“

oder:

„Musik und Kultur kennen keine Rassen. Sie gehören allen und dürfen von allen ausgeübt, verändert und interpretiert werden. Linke wie rechte Identitätspolitik sorgt nur für die Spaltung der Gesellschaft.“

oder:

„Puh…Das wirkt auf mich wie die Forderung nach einer Frauenquote. Ich denke immer dass sich „gut“ auf Dauer auch durchsetzen wird. Unabhängig von Hautfarbe oder Geschlecht oder was auch immer.
Hoffentlich schiebt mich das jetzt nicht gleich in die falsche Ecke, aber so gefällt mir das nicht.“

Auf die Forderung nach Sichtbarkeit der Leistung von schwarzen Techno-Pionieren in Detroit, wie Juan Atkins, Derrick May und Kevin Soundersen, wird mit Besitzanspruch und Verlustängsten reagiert. Um jegliche Diskussion im Keime zu ersticken werden dann die Geister des gewaltsamen politischen Lagerkampfes heraufbeschworen und vor der Spaltung der Gesellschaft gewarnt. Es wird die Frauenquote bemüht und eigentlich genauso reagiert, wie bei der Debatte um diese auch: es wird auf die Annahme vertraut, dass das Gute sich eben durchgesetzt hat. Das heisst im Klartext: „Frauen und schwarze Menschen sind eben nicht so gut, wie weisse Männer“.

Ja, da kann man eben nichts machen!

Ich selber konnte mit Techno nie wirklich was anfangen. Nicht, dass ich es nicht vesucht hätte. Ich habe mir Platten und CD’s gekauft und habe mir redlich Mühe gegeben, irgendwie rein zu kommen. Aber es ist mir bis zu diesem Tage nicht gelungen. Vielleicht sollte ich mal Juan Atkins hören. Aber zu dem hatte ich bisher keinen Zugang, denn die Sicht war vernebelt durch drogenbleiche hässliche Hedonist*innen auf Loveparades.

Deswegen warte ich nun sehnsüchtig auf die Veröffentlichung von Deforrest Brown.

Wie können wir den Kulturbetrieb in Deutschland von der permanenten Dauerüberforderung befreien?

Wenn jemand aus deinem Freundeskreis einen Job im Theaterbetrieb erhält, dann sag schon mal leise Servus. Denn es wird lange dauern, bis du ihn oder sie mal wieder völlig entspannt zu irgendeinem Anlaß treffen kannst. Diese Menschen arbeiten mindestens 60 Stunden in der Woche und ihre Gehirne sind im besten Falle in mindestens 100 einzelne Bereiche unterteilt, in denen die Synapsen rund um die Uhr förmlich glühen! Sie sind kurz angebunden, haben ein Meeting nach dem anderen und die Positionen sind chronisch unterbesetzt. Es sei denn, es handelt sich um den real existierenden elitären Hochbetrieb: Staatstheater, oder Opernhäuser. Da läuft die Schose, denn da wird reingebuttert sowohl von staatlicher Seite, als auch über Spenden durch unterstützende Vereine und Dauerabonnements etc.. Städtische Theater hingegen – haben sie auch noch so ein hohes Renommeé – liegen mit ihren Budgets meist viel weiter darunter, jetzt während der Pandemie allemal. Budgets wurden gekürzt, Zugänge beschränkt und somit Einnahmen unterbunden (in den Fußballstadien geht’s jedoch hingegen rund).
Auch Menschen, die sich auf selbständiger Ebene mit Kunst, Kultur oder in der „Kreativwirtschaft“ betätigen geht es nicht anders. Sie produzieren am laufenden Band und promoten sich selbst auf allen Kanälen, vor allem Online. Ein Post auf einer Social Media-Plattform dauert mindestens 10 Minuten. Wenn du auf z.B. auf 4 Social-Media-Kanälen unterwegs bist, dann sind das pro Post schon mal mindestens 40 Minuten. Wenn du 3 Posts am Tag ablässt, dann sind das locker 2 Stunden. Hinzu kommt, dass man die Bilder erst mal im richtigen Licht schießen, vorsortieren, bearbeiten und sich einen Text ausdenken, Namen, Markierungen und Hashtags recherchieren muß. Somit gehen wir mal von 3-4 Stunden täglich aus, die man als engagierter Selfpromoter jeden Tag im Cyberspace abhängt- und da sind die rein privaten Meinungsäußerungen, Kommentarbattles und das liken von Posts von Freund*innen noch gar nicht inbegriffen.
Und dann braucht man noch Zeit für die eigentliche Arbeit, die man macht: Musik, Malen, Schreiben, Publizieren, Theater, Tanz, whatever. Das nimmt auch sehr viel Zeit in Anspruch, muß man wissen. Und zu guter letzt muß man ja gesehen werden! Dazu braucht es Anlässe, Veranstaltungen, Empfänge, Parties, Preisverleihungen, Ehrungen, etc.. Sichtbarkeit ist das wertvollste Gut der heutigen Zeit.
Loops werden zur Lebensform. Standardmäßig haben deswegen das Handy griffbereit, um gegebenenfalls kurze Sequenzen aufzunehmen und sie Online im Loop laufen zu lassen. Das leben läuft in Schleife. Der zynische Witz erleichtert einem die Existenz im absurden Präkariat. Ein Projekt jagt das andere. Wir bleiben, toll, originell, überfordert und überarbeitet.

Ottonormalverbraucher*innen werden auf der Straße interviewt und antworten auf die Frage nach seiner/ihrer Meinung zum Bedingungslosen Grundeinkommen mit: „Ja, aber dann würde doch niemand mehr wirklich arbeiten?“.

Do you remember the days of slavery?

Die unerklärliche Leichtigkeit der hartnäckigen Empörung über Antisemitismus auf deutschem Boden.

Menschen mit tunesischen, türkischen und palästinensischen Fahnen schreien vor Synagogen in Deutschland antisemitische Parolen. Sie – diejenigen, die in einem „weißen“ Europa zur gesellschaftlich benachteiligten Schicht gehören, haben sich nun auf einem Präsentierteller bereitgestellt, um den rechten Agitator*innen als hässliche Blitzableiter zu dienen. Somit werden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen:

1. Man muss den Antisemitismus gar nicht mehr selber betreiben, sondern lässt die Drecksarbeit von den unteren Schichten erledigen, die man selber auf Grund ihrer ethnischen Herkunft ebenfalls rassistisch segregiert.

2. Man kann nun wieder einmal getrost mit dem Finger auf die „bösen Moslems“ zeigen und sich verlogen als Angehörige der „jüdisch-christlichen“ Kultur oberflächlich auf die vermeintlich richtige Seite schlagen, um politisch gut da zu stehen.

Damit kreuzen sich wieder einmal die Wege von radikalen Moslems und faschistischen Kolonialromantiker*innen, so wie es schon oft der Fall war: so zum Beispiel im ersten Weltkrieg, als beide Kriegsparteien versuchten, die Muslime im Dienst der eigenen Allmachtsphantasien zu rekrutieren. Man errinere sich an die Allianz des deutschen Kaiserreichs mit den damals sich im osmanischen Reich hochputschenden Nationalisten, die beide der glorreichen Idee verfielen, einen Dschihad gegen die gemeinsamen Feinde durch den amtierenden Kalifen (muslimisches Religionsoberhaupt) ausrufen zu lassen. Der Einfluß dieses Mannes auf die muslimische Welt war jedoch von bescheidenem Ausmaß, wie sich herausstellte.

Denn den pragmatisch agierenden und wesentlich effektiver arbeitenden Geheimdiensten des Feindes viel es leicht, dieses strategische Manöver zu parieren. Bald konnten sie – durch die zugegebenermaßen geniale Spionage und Agitation von Leuten wie Lawrence von Arabien und Gertrude Bell – die arabischen Völker wesentlich schneller im Zuge von heuchlerischen „Freiheits- und Unabhänigkeitsversprechen“ auf ihre Seite bringen und den Krieg für sich entscheiden.

Das Resultat liegt als permanente Wunde offen dar: Willkürlich gezogene Grenzen, die im Sinne von Ölkonzernen und imperialistischen Phantasien entstanden, ein respektloser Umgang mit den kulturellen und territorialen Ansprüchen der angestammten Bevölkerung vom Nahen Osten bis zum Hindukusch, wirtschalftliche Abhängigkeit und Autonomieverlust der jungen Nationen in der gesamten Region, die systematische Plünderung der Bodenschätze und des kultuellen Erbes, daraus resultierend eine nicht mehr enden wollende Spirale der Gewalt, Mißgunst und Unmenschlichkeit. Am allerschlimmsten jedoch wiegt die Stigmatisierung von Millionen Menschen als Angehörige einer „gewaltverherrlichenden und unmenschlichen Kultur“.

Der Nahe Osten ist nicht das Zentrum von Krieg und Gewalt. Er ist die Wiege unserer Zivilisation! Die Systematik der industriellen Kriegsführung stammt aus Europa: Im 2. Weltkrieg werden mitten in Europa 6 Millionen Juden vernichtet, hunderttausende von Muslime wieder für militärische Zwecke rekrutiert und nach erfüllter Aufgabe in Massen auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Man bedenke hier das Schicksal der hunderttausenden auf deutsche Seite übergetretenen Muslime, die im 3. Reich für die Wehrmacht gekämpft haben und nach dem Maltabkommen dem stalinistischen Regime übergeben und somit sauber entsorgt wurden.

Die kläglichen Überreste haben sich vor allem in Deutschland – protegiert von politisch konservativen Kreisen, unter anderem von Franz Josef Strauß in Bayern – und im Windschatten der westlichen Geheimpropaganda gegen Russland im kalten Krieg, über die Jahre gut organisiert und sind hier zu mächtigen Strukturen herangewachsen. Dieses Land wuchs somit zur Drehscheibe radikalislamistischer Strukturen an. Jetzt tut man im rechten Spektrum natürlich so, als wüsste man von nichts und hätte es plötzlich mit einer per se gewaltbasierenden „fremden“ Kultur zu tun, die hiesige demokratische Stukturen unterwandert. Dies nutzt man zudem ganz pragmatisch als Argument, um steigende Staatsausgaben für  Sicherheitsmaßnahmen zu rechtfertigen.

Indessen ging die globale Ausbeutung der Muslime seit je her immer weiter: Al Quaida, Taliban, IS, aber auch ultraradikale islamische Sekten und Verbände wurden oft im Zuge von kurzfristigen und unmenschlichen Geheimstrategien protegiert. Diese Strategien haben sich – meiner Meinung nach – schon längst verselbständigt. Man hat schlicht und einfach die Kontrolle verloren. Nur eines ist klar: es geht – exakt wie im 1. Weltkrieg – langfristig nur um Machtstrategien in der Region, die durch kurzfristige Notmaßnahmen aufrecht erhalten werden – durchgeführt von Interessengemeinschaften und Fraktionen, deren Konstellationen sich jeden Moment verändern können. Milliarden werden in diese redundanten Strategien Jahr für Jahr investiert. Öl- und Gasreserven sind ihre heiligsten Güter.

Sobald diese versiegt sind, wird die Region wieder fallen gelassen und seinem eigenen Schicksal überlassen werden. Bis dem so ist, haben wir dort aber noch einige Jahrzehnte voller Leid und Tod vor uns. Das leidtragende Volk wird so in die Flucht und ins Verderben gestürzt und als ob das nicht reichen würde, muß es dafür auch noch mit weiterer Todesgefahr und Elend auf der Flucht und mit jahrzehntelanger Demütigung und Unterdrückung an ihrem Traumziel in Europa bitter bezahlen. Die Konflikte der Region werden ganz natürlich mitgenommen und in Europa weiter ausgetragen – das ist genau das, was wir nun auf den Straßen Deutschlands erleben. Es zeigt, dass man die Vorgänge hier nicht von der Problematik im Nahen Osten separieren kann.

Es ist ein armseliges Schauspiel, dass sich vor unseren Augen ausbreitet: täglich wird das Völkerreicht auf die heftigste Art und Weise von radikalen jüdischen Siedlern gebrochen und das palästinensische Volk seit Jahrzehnten unterdrückt.

Im Gegenzug dient genau das radikalen faschistischen Strukturen wie der Hamas und anderen islamistischen Organisationen dazu, ihr Machtpotenzial weiter auszubauen, indem sie ihr eigenes Volk rücksichtslos in das größte Leid stürzen. Darauf reagieren die nationalistischen Hardliner Israels nur allzu gerne, gedeckt von der befangenen westlichen Welt, die größte Ungerechtigkeiten einfach geschehen lässt, im bitteren Bewußtsein ihrer eigenen historischen Schuld den Menschen in der Region gegenüber. Somit bietet sie den radikalen Kräften auf beiden Seiten Aktionsräume. Weltweit bedienen sich Populist*innen an diesem Konflikt, um ihre stereotypen Feindbilder zu schärfen und zu inszenieren.

Die Rücksichtslosigkeit mit der beide Seiten Tod und Zerstörung auf der jeweils anderen Seite im Namen des gleichen Gottes feiern, wie kleine glückselige Kinder, ist zum Kotzen. Ich bin mit diesem Konflikt großgeworden und im Grunde war er für mich der wesentliche Impuls, mich von den abrahamitischen Religionen zu distanzieren, denn ich bin zu tiefst enttäuscht von ihnen und glaube nicht daran, dass sie zeitgemäße Antworten für die großen Herausforderungen der Menschheit bieten. Das ist meine Ansicht.

Trotzdem gönne ich jedem Menschen seine Religion und wende mich gegen jegliche Form der Diskriminierung von Menschen auf Grund von Religion, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht und politischer Überzeugung.

Ich bin mir natürlich bewußt, dass dieses Statement mitlerweiler leider zu einem oberflächlichen Lippenbekenntnis verkommen ist, das alle von sich geben, wie Gänsegeschnatter. Das Resultat dieser Oberflächlichkeit liegt – insbesondere in Deutschland – offen auf der Hand: der ewige Antisemitismus macht sich immer noch breit. „Das Judentum“ als Feindbild ist ein immer noch bestimmendes Bild und wird nun von radikalen muslimischen Kreisen dumm und naiv übernommen. Es gibt keine Möglichkeit des rationalen Diskurses, denn dieser wird durch die Verquickung von Politik und Populismus sabotiert.

Antisemitismus und seine Ausläufer in Form von Verschwörungsideologien gegenüber der jüdischen Community sind weit verbreitet. In Form von lapidaren Floskeln vernormalisiert sich der Gedanke vom Judentum als Fundament des Bösen. In vielen Regionen der Welt gehört diese Denke zum gängigen Konsens, der sich durch alle politischen Lager durchzieht. Das ist nicht nur in Ländern so, in denen Muslime die dominante religiöse Gruppe darstellen. Leider lassen diese sich aber am leichtesten Instrumentalisieren, wie wir in den erschreckenden Bildern aus Gelsenkirchen sehen konnten.

Das muß aufhören: es muß eine Möglichkeit geben, den Antisemitismus in muslimischen Gemeinden in Deutschland – samt ihrer historischen Traditionen – zu diskutieren. Es muß aber auch möglich sein, die Völkerrechtsbrüche der israelischen Regierung zu kritisieren. Es muß Wege geben, die heuchlerischen Aktionen von Rechtspopulist*innen zu unterbinden, die sich jüdischer Symbole bemächtigen und sich zu Verteidiger*innen von Menschenrechten stilisieren.

Meine wichtigste Erkenntnis ist jedoch – wie oben schon angerissen – diese: Man kann die Vorkommnisse hier und dort nicht unabhängig voneinander verhandeln. Ohne einen fairen und konstruktiven Blick auf globale politische Strukturen wird es keinen Rückzug von antisemitischen, nationalsozialistischen, rassistischen, aber auch radikalislamistischen Entwicklungen geben – insbesondere in Europa nicht.

Wir leben faktisch immer noch im 1. Weltkrieg!

Der Nahe Osten ist das Heiligtum der Menschheit. Dort hat sich die Entstehung unserer Zivilisation abgespielt, auf die wir so stolz sind und auf die wir uns ständig berufen. Die Würde dieser Region, ist auch unsere, aber wir verkaufen sie auf dem Markt der Unmeschlichkeit für Gas und Öl, für welches wir den Leib unserer Mutter Erde mißhandeln und plündern.

Dieser Konflikt zeigt uns in seiner traurigen Dramatik, wie wir unser eigenes Erbe schänden. Wir sind armselige Lügner*innen, die sich im Schatten eines selbstkreierten Gottes ständig zu Opfern stilisieren, um ihre Gier und ihre Selbssucht vor ihrem eigenen Gewissen rechtfertigen zu können, anstatt endlich Verantwortung für das eigene großartige kollektive Erbe zu übernehmen.

Ich schäme mich dafür. Ich weiß nicht, wie es euch geht?

Meine tiefste Solidarität gilt unseren jüdischen Mitbürger*innen in Deutschland. Insbesondere die BPOC-Gemeinde muß jetzt mit ihnen stehen!

Triptonious Coltrane.

Zur Lage der Nation

Immer, wenn des Teufels Advokat wieder auf Erden weilt, um den Markt zu regulieren, dann sorgt das für Entspannung an der Wall Street.

Es könnte aber sein, dass bald der Messias antanzt, uns allen reinen Wein einschenkt und wir danach die Dinge glasklar sehen.

Manche von uns werden dann sagen, sie hätten nur Befehle ausgeführt und könnten nichts dafür, außerdem hätten ja sonst die Kommunisten gewonnen.

Dabei hatten die Kommunisten schon immer viel mehr Ahnung vom Märkte regulieren, aber der liebe Gott wird schon wissen, warum das so sein mußte.

Und dann gibt es ja so Schlaumeier, die mir jetzt allen Ernstes erzählen wollen, dass „eben diese Kommunisten, zusammen mit den Satanisten die Welt regieren“. Ja guten Morgen! Das hab‘ ich doch schon vor 2 Jahrzehnten gepredigt, nur hat mir nie einer zugehört!

Damals haben diese Schnappsnasen noch beim Frühschoppen zu Jürgen Drews herumgeschunkelt! Dabei hätte man da noch etwas unternehmen können.

Jetzt sind sie in ihren 60’ern zu Billo-Politaktivisten herangereift, sitzen mit ihren verkalkten Ärschen in dicken SUV’s und veranstalten Anti-Corona-Kinderfasching-Corsos in der Innenstadt.

Na schön! Danke Merkel! Aber das bringt’s jetzt auch nicht mehr. Die digitale Impf-ID ist im Anmarsch und diese Armleuchter werden ihn sich einer nach dem anderen noch holen, wenn’s dazu nen Amazon Gutschein und ein Netflix-Abo für umme gibt.

Gestern ging’s noch um den Kampf um’s Bargeld. Heute steh‘ ich an der Kasse und kann nur noch kontaktlos zahlen. Du weißt nicht, was das ist? Dann geh‘ in’n Edeka und frag‘ die Kassenkraft, die kann dir das erläutern.

Ich bin erstmal raus. Gleich kommt „Höhle der Löwen“ im Fernseh. Da haben zwei pfiffige Jungs einen pinken Handschuh für die Frauenwelt entworfen, mit dem man benutzte Menstruationsutensilien entsorgen kann, ohne sich „die Hände schmutzig zu machen“. Was für eine Geschäftsidee! Entworfen von sensiblen Männern, für rücksichtsvolle Frauen.

Das macht einem wenigstens ein bißchen Hoffnung…nachdem uns ja sowohl ein bayerischer Kanzler, als auch auch ein Ende der schwarz-roten Koalition noch zumindest ein paar Jahre verwehrt bleiben werden.

Aber ich sehe gerade, dass einem nicht mal pinke Handschuhe vergönnt werden: https://pinkygloves.de/.

Die Empörung über die Empörung

Meistens gewinnen die, die sich am lautesten empören – vorausgesetzt, sie haben eine politische Lobby hinter sich, oder schaffen es, durch ihre Empörung eine politische Lobby zu schaffen, die ihre Deutungshoheit innerhalb des Diskurses zementiert – Klickzahlen und Kapitalstärke schaden dabei nicht. Zur Behauptung einer Position bedarf es aktuell einer Masse an Followern, die zwar noch lange keinen Anteil an dem materiellen Gewinn haben, den fast jeder meinungsstrategische Wurf mit sich bringt, aber sich in irgendeiner Form mit der Haltung einer dominanten Lobby identifizieren. Zum Beispiel glaube Ich, dass es nur so gelingen konnte, inmitten der schwersten Phase der 3. Welle der Pandemie es zu schaffen, die Reisewarnung für Mallorca aufheben zu lassen, während in einem Geflüchtetencamp in Korinth in Griechenland das Komplettchaos ausbricht, notdürftige Behausungen in Flammen aufgehen und Menschen Selbstmord begehen, weil sie ohne medizinische Versorgung und ohne funktionierende Infrastruktur in einer Art Massenkäfig des Horrors gehalten werden.
Wenn man sich laut empört, ohne den Rückhalt einer starken politischen Lobby, oder zumindest der aktiven und passiven Unterstützung eines großen Teiles der Bevölkerung, dann hat man es schwer. Jedes Argument wird dann zerpflückt und auseinandergenommen, zigfach gewendet und so lange ad absurdum geführt, bis es – eingehüllt in einer Panade der Diskreditierung – im Strahlenschutzkessel der öffentlichen Irrelevanz endet. Dort kann das Thema dann bis in alle Ewigkeit versauern, oder aber, es wird nach Jahrzehnten (häufig viel zu spät) herausgekramt, in einer Marinade der politischen Vereinnahmung gewendet und auf die tagespolitische Agenda gehauen, wie ein Stück Grillfleisch aus dem Tiefkühlfach auf den vorgeheizten Grill. Als Beispiel wären da diverse Aspekte des Umweltschutzes, der Nuklearausstieg, der Klimaschutz, die gesellschaftliche Inklusion oder die nachhaltige Ökonomie zu nennen.
Das sind alles Standardthemen jetzt, um die im Wahlkampf erbittert gekämpft wird. Über Jahrzehnte mussten aber eine Armada von Aktivist*innen dafür Häme, Spott und auch politische Verfolgung durch Geheimdienste und Verfassungsschutz hinnehmen, bis ihnen diese Themen von einem Tag auf den anderen von mürrisch-beleidigten politischen Gegnern neidvoll aus den Händen gerissen wurden. Sie hatten schließlich in mühevollem Überzeugungskampf das Stinktierthema zum politischen Diamanten geschliffen. Und jetzt waren sie selber nicht mehr gut genug für das Schmuckstück, diesem Garanten für den nächsten Wahlsieg. Das selbe steht wohl Greta Thunberg mit den wirtschaftsliberalen Parteigranden dieser Welt auch bevor, von denen sie jetzt noch aufs übelste erniedrigt und beschimpft wird.
In einem solchen politischen Winkelzug wird das eigentliche Thema zum Etikett, zu einem zählbaren Mehrwert, einem politischen, aber auch reellen Kapitalmultiplikator: Umweltthemen bringen schon lange viel Geld ein und auch nachhaltige Geldanlageformen gewinnen nach wie vor immer mehr an Wert. Das Blatt hat sich gewendet und wendet sich unaufhaltbar weiter und weiter.
Auf der einen Seite – so denkt man – ist das eigentlich eine gute Sache. Nur baut sich jetzt um diese Themen herum die selbe Wirtschaftsphilosophie auf, die bisher auch schon in die falsche Richtung lief: in den permanenten materiellen Wachstum, der keine Alternativen kennt.
E-Autos suggerieren eine nahezu perfekte Illusion der größtmöglichen Umweltverträglichkeit, aber im Endeffekt sind sie die selben übergewichtigen Statussymbole, wie ihre fossilenergieschluckenden Vorgänger. Die Reduktion und somit die Eindämmung der Überproduktion kommt nicht in Frage. Wir müssen mehr Autos produzieren, damit die Wirtschaft läuft. Wo diese Autos dann fahren, ist im Grunde egal. Vielleicht bald auf dem Mars? Wenn nötig, dann müssen die Wege und Möglichkeiten dafür geschaffen werden. Jetzt würden einige von euch gerne lauthals loslachen…aber das Marsbesiedelungsprogramm Elon Musks lauert zu bedrohlich nahe am Horizont.
Eines der schlimmsten Tatsachen in diesem Kontext ist die Situation der bisher munter vor sich hin vegetierenden „Volksmasse“, die, sorgsam umwoben von einem Cocon aus sozialen Sicherheiten, Krankenversicherungspflicht, stabiler Wirtschaftslage und Jobaussichten im Paradies der deutschen Sozialwirtschaft für jegliche Schieflage gerüstet schien. Ein ganzes kollektives Selbstbild basierte im sogenannten Westen auf diesem „Glauben“ an das eigene Privileg. Sogar der/die unterdurschnittlichste Verdiener*in konnte sich zumindest einen Flachbildschirm, Bier, Chips und ab und an ’nen Ballermannurlaub leisten. Politische Beteiligung war schon immer zu anstrengend und äußerte sich höchstens mal in dem einen oder anderen unkorrekten Witz.
Jetzt aber kommt diese besagte „Masse“ an ihre Grenzen, weil ihr nahegelegt wird, nicht mehr Z-Schnitzel zu sagen, dunkelhäutige nonbinäre Menschen von ihnen verlangen, dass sie gendern sollen, sich mit einer dritten Klotür anfreunden, etc.. Als ob das nicht reichte, wird das sogenannte Volk nun auch noch wegen einem „vermeintlichen“ Virus vom eigenen Staat in seinen „Bürgerrechten“ beeinträchtigt und am freien Willen „zu sterben“ gehindert. Da wird man schnell mal vom verwöhnten Wirtschaftsboombürger zum Opfer des Neoliberalismus gemacht. So leicht kann das gehen!
Das sorgt natürlich für Empörung und diese führt dann sogar soweit, dass es in einem Land wie Deutschland aktuell wohl mehr Antikapitalist*innen und Globalisierungsgegner gibt, als je zuvor in seiner Geschichte (ein sehr prägnantes Beispiel für oben genannte „politische Vereinnahmung“ vormals unpopulärer Ideen).
Was kann man dagegen nun tun? Klar: Man schickt „die Masse“ im Frühjahr auf „Malle“, wo sie im Gegensatz zu den dortigen Einheimischen in Ruhe Urlaub machen kann und gönnt ihr die Aussicht auf eine grandiose Weltmeisterschaft 2022 in Katar – einem Land in dem für weltweite Hooliganträume ca. 6500 Arbeitsmigranten unter schwersten Arbeitsbedingungen ihr Leben lassen mussten.
Wo fehlt es da? Irgendwo muß es doch ein Verständnis- und auch ein Selbstverständnisproblem geben? Ja, klar macht der Kapitalismus spaß bis zu einem gewissen Punkt – den Kapitalist*innen allemal. Der Markt reguliert sich selbst, heisst es, aber alles was wir erleben ist, dass die Gewinner den Deal unter sich regeln, indem „sie“ nämlich den Markt regulieren. Die Nationalstaaten dienen mit dem hart erarbeiteten Staatsbudget als Knautschzone für die waghalsigen Experimente des Finanzmarktes.
Alles, was sonst auf dieser Erde läuft sind Kollateralschäden und das ist diese Pandemie auch. Wieviele Menschen dabei sterben ist natürlich für uns als Menschheit wichtig, aber entscheidend ist, wie die Wirtschaft aus der Sache herauskommt. Und die Diskrepanz in der Relevanz dieser beiden Begriffe ist enorm: wichtig sind Menschenrechte, der Kampf gegen ökonomische Ungerechtigkeit, gegen die Gewalt an Frauen und und und… Aber „entscheidend“ ist etwas anderes!
Mein Problem ist nur, dass all diese Gedanken von genau den Querschädeln vor sich her getragen werden, gegen die ich mich wende. Deswegen geht mir die Inflation des Antikapitalismus gerade ziemlich auf den Keks, wie immer, wenn sinnvolle politische Phänomene im weit aufgesperrten Rachen des politischen Mittelmasses landen, das immer in die Fläche expandiert, aber nie in die Tiefe. Die verkrustete Ränder drumherum bilden dann die Einöde, die man Populismus schimpft und diese reichen momentan leider sehr weit in die verfluchte sogenannte Mitte der Gesellschaft hinein. Letzteren Begriff hat eh der Teufel geschaffen.