Seit der Sache mit den Rastazöpfen von Bern und dem Winnetou-Eklat ist das Thema kulturelle Aneignung plötzlich wieder ganz weit oben in der Öffentlichkeit angelangt. Die kollektive Identität der Mehrheitsgesellschaft ist eine sehr diffuse und hochsensible Angelegenheit. Da Rastazöpfe mittlerweile auch schon zum europäischen Alternativkulturgut gehören und Winnetou unser aller Jugendzimmer geziert hat, fließen natürlich gleich Tränen, wenn plötzlich ihre Legitimität hinterfragt wird. Das ist so ähnlich, wie bei einem Kleinkind, dem das Spielzeug weggenommen wird: das Resultat ist im schlimmsten Falle himmeljauchzendes Geheule. Und dieses Geheule wirkt fast schon wie eine reaktionäre Gegenoffensive der Mehrheitsgesellschaft durch die Selbststilisierung als „das größere Opfer“. Eskortiert durch einschlägige deutsche Boulevardblätter erhält diese Perspektive natürlich prompt auch wesentlich mehr öffentliche Resonanz.
Natürlich kann ich es sehr wohl verstehen, dass man nun bemüht ist, das Thema herunter zu kochen und ihm das erdrückende Gewicht nehmen zu wollen….das klingt in meinen Ohren jedoch immer nach gutgemeintem Trost. Dieser bringt mit Verlaub leider nichts, denn die Sache ist wesentlich komplexer, als der/die VertreterIn der Mehrheitsgesellschaft es gerne hätte. Ich rate ja eher dazu, sich von falschen Versöhnungszeremoniellen zu verabschieden. Wenn, dann versöhnen wir uns, nachdem wir uns aufrichtig – und vor allem fair – gestritten haben. Es ist an der Zeit!
Als Erstes möchte ich sagen, dass ich die Popkultur als gesellschaftliches Phänomen sehr ernst nehme, denn ich weiß um ihr zerstörerisches Potential. Auch halte ich es für schwierig, sie inflationär zur Legitimierung von gesellschaftlichen Konsensprozessen zu bemühen. Denn Popkultur ist keineswegs ein neutraler Spielplatz für alle. Sie ist extrem weiß-dominiert. Deswegen hat für mich die ekklektische Habgier der „Raubritter“ – wie sich z.B. die US-amerikanische Rockband Steely Dan mal selbst genannt haben – keine Priorität.
Die Popkultur muss nicht bedient werden. Sie nimmt sich eh alles, was sie kriegen kann. Relevant für mich ist die Frage: „Was kann man sich zurückholen?“
Ich war zu Fasching stets „Cowboy“. Für mich war es normal, dass Indigene in den von mir heißgeliebten Western immer die Verlierer waren und in Massen abgeknallt wurden. Bis ich irgendwann von dem fatalen Unrecht erfuhr, dem sie zum Opfer gefallen waren. Danach waren Cowboys im Fasching für mich gegessen.
Als Kulturphänomen ist Karl May aus der deutschen Literatur leider nicht wegzudenken. Ich würde ihn trotzdem unseren Kindern nicht unkommentiert antun wollen, denn er spiegelt ein Weltbild wieder, dessen Problematik darin begründet liegt, dass wir mittlerweile – im Gegensatz zu ihm damals – die tragische Geschichte des Wilden Westens sehr gut kennen. So schön Pierre Briece auch war: Winnetou ist gesellschaftlich nicht tragbar.
Als eines der beliebten Anschauungsbeispiele zu dieser Debatte wird gerne Bob Marley herangezogen: sein Song Punky Reggae Party sei als Aufruf zum Stilmix zu verstehen, somit also auch als Legitimation für weisse Rastas. Vor allem ging es ihm aber eher um die Solidarität zwischen zwei marginalisierten Gruppen in einer postkolonialen Weltordnung. Auch hat keiner von The Clash jemals Dreadlocks getragen, denn sie waren eben Punks und sich dessen auch bewusst.
Die ideale Welt, in der wir alle gleich zu sein scheinen und gleichberechtigt kulturelle Elemente munter untereinander austauschen. Sie hätte da vielleicht beginnen können. Aber die globale Entwicklung bis heute zeigt leider in die genau entgegengesetzte Richtung. Diese Friede, Freude, Eierkuchen-Welt ist eine Illusion geblieben, denn sie funktionierte nur für die „weltoffenen“ Whiteys. Als Drittweltmensch kannst du noch so weltoffen sein, du kriegst dafür nicht mal ein Visum.
Stattdessen hast du es mit einem Monster an ungeklärtem postkolonialen Erbe und mit äußerst rassistischen Strukturen zu tun. Und das wird noch sehr lange so anhalten. Face it! Deswegen werden Gegenforderungen jetzt direkter, härter und kompromissloser gestellt. Das heißt nicht, dass es sie vorher nicht gab. Es interessiert nur niemanden, wenn man sie nicht vehement genug einfordert.
Dass das für die VertreterInnen der Mehrheitsgesellschaft unangenehm ist, kann ich verstehen. Aber das Leben ist eben keine Schimmelrevue.
Ich würde mir nie anmaßen, weißen Dreadlocks die Bühne zu verweigern, aber ich bin auch nicht betroffen. Ich bin nicht Schwarz und habe mit Rasta-Kultur nichts zu tun. Was ich allerdings durchaus kann ist: „Empathie zu entwickeln“ und es durchaus zu verstehen, wenn Menschen die Ausschlachtung, Aneignung und Umformulierung ihrer hart erarbeiteten Gegenkultur mächtig auf den Senkel geht. Denn diese wird von der heiligen Popkultur seit jeher in leckere Donuts verarbeitet und um sie dann den unbedarften Kids einer Luxusgesellschaft feilzubieten. Die Wut, die das erzeugt, kann ich gut verstehen. Sie entspringt nicht der puren Lust an der schlechten Laune, sondern ist das Resultat von jahrhundertealtem Schmerz.
Mein Resümee ist: es wird nichts diffamiert, oder verboten. Dazu hat keiner die Macht, wir marginalisierten Gruppen der Gesellschaft schon gar nicht. Euren Winnetou nimmt euch auch so schnell niemand weg, auch wenn die Springer Presse davon überzeugt ist. Es wird lediglich versucht, auf Perspektiven der Unterprivilegierten hin zu weisen und eine Debatte anzuschieben, die von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist. Verschobene Machtverhältnisse nur zu benennen und mit dem Finger darauf zu weisen, hilft alleine nicht. Um sie effektiv angreifen zu können braucht es mehr Solidarität und auch Demut. Wir alle müssen das weiß-dominierte Grundkonzept der Popkultur wahrnehmen und begreifen. Statt zu heulen und zu lamentieren, sollte man den „Anderen“ zuhören und sie ernst nehmen. Nur so wird Popkultur sexier für uns alle, nicht nur für euch!
Dieser Text wurde in einer etwas vereinfachteren Form am 20.09.22 als Beitrag von Tuncay Acar für den Zündfunk / Bayern 2 verfasst und gesendet. Er war als Gegenmeinung zu folgendem Beitrag des Zündfunk Redakteurs Michael Bartle verfasst worden: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/kulturelle-aneignung-in-der-musik-100.html.