Wir sind die Anderen

Wir sind Wir.
Wir sind die Anderen.
Wir tanzen zu ungeraden Takten, wie die Fische im salzigen Meerwasser.
Sonne gerbt unsere Haut.
Wenn wir sprechen, klingen die rauhen sanften Hände unserer Mütter.
Das Lachen ist eingemeißelt in unsere faltige Haut.

Unser Großmut lässt niemanden hungern.
Wir sind oft Männer.
Dumm, übermütig und selbstverliebt besingen wir unsere Frauen in Volksweisen, Liedern, Gedichten und Epen,
oder wir bewerfen uns gegenseitig mit ihren heiligen Körpern in unseren wildesten Flüchen.

Wir sind immer auserlesen.
Wir sind niemandem ähnlich.
Wir gleichen nur uns selbst.
Unsere Sprache ist von Gott gesandt.
Unsere Kultur ist die Wiege der Menschheit.

Wir sind voller Liebe,
voller Gottesfurcht.
Wir sind der Krieg.
Wir sind der Frieden.
Wir sind die Fruchtbarkeit.

Wir sind unmündig.
Töricht.
Ungerecht.
Grausam.

Und vor allem….vergesslich.

Nur eines vergessen wir nie:
Die Anderen.
…die Unmenschen…die Ungeheuer…
…die das Blut unserer Kinder tranken.
…die unsere jungen Frauen entweihten.
…die unsere tapferen Söhne mordeten.
…die keine Heiligkeit kannten und kein Gotteshaus.
…deren Seelen verdorben waren, und immer noch sind.

Sie werden wir nie vergessen!

Doch es regt sich immer diese leise Stimme in uns.
Sie ist uns nicht sehr genehm.
Deswegen begraben wir sie wieder heuchlerisch in unserem Gewissen.
Aber sie kriecht immer wieder hartnäckig empor in der Nacht
und versperrt unsere trockenen Kehlen.

Sie fragt:
…sind wir nicht auch die Anderen?
…sind nicht wir es, die unser Land verraten?
…unsere Menschen?
…entwürdigen wir sie nicht mit unserem Hass?

…ist die Geschichte nicht unser aller Eigentum?
…genau so wie unsere Sprache?
…ist es nicht unser aller Menschlichkeit?
…unsere endlose Liebe?
…sind es nicht unsere Lieder?
…gehören sie nicht uns allen?

…und die Opfer?
…sind sie nicht unser aller Opfer?
…und auch all diese Fragen?
…gehören sie nicht uns?
…haben wir sie nicht gezeugt in patriarchalem Wahn?

Diese leise Stimme ist die Stimme
unserer Seelen
unserer Ehrlichkeit
unserer Intelligenz
unseres Gewissens
unserer Verantwortung

Sie ist die Stimme unserer Kinder

Sie wird immer lauter und sagt:
Ja, „wir“ sind diejenigen, die all dies getan haben,
all dies geschaffen haben.
Auch die Symbole,
in deren Schatten wir voranschreiten.

Auch Gott haben wir selbst erschaffen,
nur um ihm die große Verantwortung aufzubürden,
die wir selber nicht willens sind zu tragen.

„Deswegen“ richten wir die Klage immer an die Anderen.

Dabei wissen wir nur allzu gut:

Wir sind Wir…
„Wir“ sind die Anderen…

(Textintro der musikalischen Lecture Performance „Biz – Wir – εμείς“ von Costas Gianacacos und Tuncay Acar.
Nächste Aufführungen im Werkraum der Münchner Kammerspiele s. hier!)

Dimitri

Es war kurz nach Mitternacht. Im Sommer scharten sich die Besucher*innen vor dem Laden und Dimitri war gerade dabei, mit einem Besen Glasscherben vor dem Eingang wegzukehren. Plötzlich stand da wieder so ein Gaffer. Dimitri kannte dieses Gefühl nur zu gut. Er hasste es, wenn er während der Nachtarbeit im Laden von wildfremden Menschen beobachtet wurde, aber das brachte der Job eben mit sich. Es war ein ungewöhnlicher Ort, den sie geschaffen hatten, in einem Viertel, von dem man eine solche Bühne nicht erwartete. Sie hatten die glorreiche Idee gehabt, aus einem ehemaligen palästinensichen Supermarkt einen Kultort zu erschaffen. Nach anfänglichem rumgenäsele rannten die Leute ihnen die Bude ein und ergötzten sich an der neuen Undergroundlocation im Hauptbahnhoftrash.
Dimitri war die eine Hälfte des Betreiberduos, dass sich keine Betriebsleitung leisten konnte. Also machten Dimitri und Ulrich alles selber. Sie waren von früh bis spät anzutreffen und liessen ganz unelitär alles auf die Bühne, was sich halbwegs zu benehmen wußte und das kam gut an.
Der Ort weckte Neugierde. Sie hatten aus einem leeren Supermarkt eine Weggehoase geschaffen, einen Kultort mitten im mehrheitsbürgerschaftlichen „Nichts“. Also waren sie fortan die Helden all dieser Menschen, die in dieser konservativen Stadt genau solche Orte mit dem Fernrohr suchten. Genau diese Menschen projezierten jedoch schon auch mal gerne ihre privaten Sehnsüchte in Personen, die ihnen dafür geeignet erschienen.
Und da kam es eben auch oft genug vor, dass man angegafft wurde. Aber dieser Typ hier war besonders hartnäckig. Er schlich um Dimitri herum und maß ihn von oben bis unten mit achtsamem Blick. Dabei wirkte er durchgehend, als würde eine erlösende Bemerkung oder Frage jeden Moment aus dem Mund purzeln. Es geschah aber nichts.
Irgendwann hielt Dimitri es nicht mehr aus, wandte sich seinem äußerst neugierigen Gast zu und fragte ihn höflich, ob er ihm behilflich sein könne. Der Gaffer musterte ihn zunächst mit einem überheblich stoischen Blick. Dann rundete er diesen in ein kindliches Lächeln ab und fragte nach kurzem zögern: „Betreibst du diesen Laden hier?“. Dimitri antwortete, dass er nicht alleine wäre, ein ganzes Kollektiv sich die Arbeit teilte und dass dies alles sonst niemals möglich geworden wäre.
Das war nichts weiter, als eine ehrliche Antwort auf eine ehrliche Frage. Bis dahin war noch nichts aussergewöhnliches passiert. Der mystische Gast baute die Fragerunde jedoch noch weiter aus. Er betrachtete Dimitri mit wohlwollendem Blick und ließ dann in einem gemäßigten Fernsehmoderatorenton diese Salve los: „Ich weiß mehr über dich, als du dir denken kannst“.
Dimitri war damals leicht reizbar. Das lag daran, dass er meist schon tagsüber ein enormes Arbeitspensum hinter sich brachte, bis es dann in die Nachtschicht ging. Eigentlich wollte er in aller Ruhe seine Arbeit fertig kriegen und hatte überhaupt gar keinen Nerv für genau diese Sorte von Schlaumeier. Der kam ihm in seiner völlig überzogenen Arroganz genau richtig. In solchen Fällen konnte der kräftig gebaute Grieche schon mal ekelhaft werden. Nun freute er sich aber regelrecht darauf, seine aufgestauten Energien auf diesen aufgeblasenen, ahnungslosen Schnösel loszulassen. „Ach interessant!“, erwiderte er nun, indem er mit dem ausgestreckten Arm seinen Besen am Stil festhielt, „dann bin ich aber mal gespannt. Was weisst du denn so über mich?“.
Ein Schmunzeln krümmte die Lippen seines Gegenübers, das nur so triefte vor Genugtuung und Selbstzufriedenheit. Er neigte sich zu Dimitri herüber, ergriff seine Schulter, als wäre er sein Geselle und wollte ihm gerade etwas ins Ohr flüstern, als dieser seine Hand von seinem Körper streifte und ihn bat, ihm seine Mitteilung ohne Körperkontakt zu machen. Das war nämlich ein weiterer Nachteil dieser Arbeit: Man war leicht zugänglich – auch körperlich. Die Hemmschwelle der Menschen sinkt zu fortgeschrittener Stunde sehr schnell, wenn sie meinen, eine emotionale Nähe  entwickeln zu müssen – vor allem, wenn Alkohol im Spiel ist. Deswegen war Dimitri auf solcherlei gut gemeinte Körperlichkeiten geeicht.
Die brüske Art liess die vermeintlich selbstsichere Fassade leicht bröckeln. Der Abgewiesene setzte leicht zurück, aber an seiner selbstgefälligen Haltung hatte sich nichts geändert. Nun schien er etwas empört, liess aber noch einmal Gnade walten und meinte in einem anerkennenden Tonfall: „Ich weiss es. Du bist ein Sozialist! Stimmts?“
Das überforderte den guten Dimitri im übermaß. Er war tatsächlich in einer linken Familie großgeworden. Sein Vater, der Zeit seines Lebens großen Einfluß auf ihn hatte,  war aber mit der Zeit von einem revolutionären Sozialisten zu einem konservativen Sozialdemokraten mutiert, was Dimitri aus Liebe zur Familie wohlgesinnt hingenommen und ihm längst verziehen hatte. Er war tatsächlich seit früher Kindheit auf Demonstrationen auf der Straße sozialisiert worden. Seine Eltern waren aktiv in linken Vereinen. Die Internationale war sein Wiegenlied gewesen. Er hegte der politischen Linken gebenüber zwar große Sympathien, aber im Zuge seiner persönlichen Entwicklung hatte er sich irgendwann einmal dafür entschieden, sich von politischen Dogmen fernzuhalten. Darüber redete er nur sehr ungerne – wenn, dann nur in engstem Kreise.
Dimitri hatte sich im Zuge seines Existenzkampfes in Deutschland ein halbwegs zufriedenstellendes Portfolio an schauspielerischen Fähigkeiten angeeignet und nutzte jetzt die Übertreibung als Stimittel, um seinem Gegenüber das affektierte Selbstbild wegzublasen: „Sozialist? Ich? Sag mal wie kommst du denn auf so einen Scheiß? Das was ich mache hat mit Sozialismus nichts zu tun. Wenn, dann könntest du mich eventuell einen Anarchisten nennen, aber das auch nur eventuell. Ich habe mit -ismen nichts am Hut, mach hier nur meinen selbstgeschaffenen Job, weil ich keine Lust habe irgendwo angestellt zu sein. Die Sozialisten können mir mal den Buckel runterrutschen!“.
Daraufhin verzog der neugierige Gaffer sein Gesicht und legte eine betroffene Miene auf. Scheinbar hatten Dimitris Worte ins Schwarze getroffen: er hatte einem Sozi-Romantiker die Illusion zerstört. Der im Kopf geschaffene Held hatte sich schon in der ersten Szene des Films selbst in die Luft gesprengt, ohne Spannungsbogen, ohne Nervenkitzel, ohne happy End – lediglich ein Showdown und der kam viel zu früh.
Mit klagendem Ton wimmerte er nun: „Ach komm. Sozialismus ist doch gut. Was willst du denn?“
Damit hatte er Dimitris Hutschnur endgültig zum reissen gebracht. Das machte ihn agil. Er lspiegelte nun das Verhalten seines Gegenübers, schritt seinerseits um diesen herum und beobachtete ihn aufmerksam von Kopfscheitel bis zur Fußsohle, fast schon wie ein Raubtier, das vor dem letzten Todesstoß noch einmal um sein Opfer kreist: „Ohoo, du bist ja richtig getroffen, wie es scheint? Ja bist du denn ein Sozialist? Siehst gar nicht aus, wie einer.“ Er betrachtete sein gegenüber jetzt ganz genau: Markenoutdoorklamotten, Systemtextilien…mitten im Sommer…der Typ sah aus, als wäre er direkt von einer Fernreisemesse gekommen. Sowas konnte sich nicht jeder leisten, schon gar keine idealistischen Sozialisten.
Dimitri schnorrte sich einen Drehtabak von jemandem um ihn und während er anfing, sich eine zu drehen setzte er zum Vergeltungsschlag an: „Jetzt werde ich dir mal etwas über dich erzählen, mein bester. Ich weiss nämlich auch mehr über dich, als dir recht ist“, blökte er ihm ins Gesicht.
„Wieso? Was weisst du denn über mich?“ fragte dieser überrascht.
Dimitri positionierte sich in aller Ruhe vor seinem Reizobjekt und nahm behäbig seinen Besenstil in die Schlaufe seines rechten Ellenbogens. In der Zwischenzeit hatten sich ein paar Passant*innen um sie gestellt und wunderten sich über diesen sonderbaren Schlagabtausch.
Dann, nach ein paar Sekunden, die zäh dahinflossen, wie geschmolzener Stahl, zog Dimitri an seiner selbstgedrehten Zigarette und fragte mit naiv interessiertem Blick und hämischer Stimme: „Du bist Maschineningenieur, stimmts? Und du arbeitest…bei BMW? Na?“
Es machte sich eine betretene Stille breit. Der Gesichtsausdruck des Gaffers war jetzt wie eingefroren, so erstaunt war er: „Ja, das stimmt. Woher weisst du das?“. Robin Hood hatte mit seiner Menschenkenntnis den im Schwarzen steckenden Pfeil seines Widersachers mit seinem eigenen gespalten.
„Du riechst förmlich danach“, erwiderte Dimitri mit einer ruhigen Stimme, deren triumphaler unterton nicht zu überhören war. Das sorgte für Lacher bei den umstehenden. Die Selbstgefälligkeit des Gaffers war somit umgehend dahin. Allen ernstes schien er sich – als glühender Sozialist, als den er sich wohl im tiefsten seines Wesens sah – für seinen guten Job zu schämen, denn er murmelte schwer verständlich vor sich hin und es klang so, als würde er versuchen, sich dafür zu rechtfertigen.
Das schrie nach einem Knock Out! Dimitri neigte seinen Kopf in die Schräge, legte einen tiefernsten Gesichtsausdruck an und fauchte: „Mein Lieber, du kannst gerne da reingehen und dich amüsieren, dich an unserem erlesenen Bühnenprogramm erfreuen, dein Geld an unserer gut ausgestatteten Bar ausgeben, alles, was du willst kannst du hier tun, solange du dich anständig benimmst. Du bist ein gutbezahlter Maschineningenieur bei BMW. Das ist sicher nicht der schlechteste Beruf. Steh zu ihm, aber erzähl mir hier bitte keine Märchen vom Sozialismus“.
Daraufhin nahm er seinen Besen und seine Mülltüte, verstaute sie hinter der Tür und verschwand in seiner kulturellen Zwischennutzung.