Sonntags um 11 h sollte man mal BR24 hören (Nachrichtenkanal). Das Format nennt sich:
„Sonntags um 11“ – der Talk auf BR24.
Untertitel: „Diskutieren Sie mit uns über das Thema der Woche – live und eine Stunde lang“.
https://www.br.de/radio/br24/sendungen/sonntags-um-11/index.html
Das ernüchtert!
Denn da ruft das Volk im Studio an und gibt seine Meinung zu aktuellen Themen kund. Das ist an und für sich eine gute Idee, aber so etwas kann man nur in Regionen machen, in denen die Bevölkerungsmehrheit eine gewisse moralische Grundbildung besitzt. Das letzte mal war die Flugblattaffäre von Hubsi Aiwanger das Thema der Woche.
Eine Stunde lang tönte da der kalte Hauch des 3. Reichs aus dem Äther und latent staatsfeindliche Gesinnungsmonster holten sich live im Radio „die Demokratie zurück“, oder katapultierten sich gleich in die seichten Weiten der deutschen Nationalidentität und hinterfragten das kollektive Schuldbewusstsein: „Warum denn entschuldigen?…Da kann man sich ja doch auch gleich für die Hexenverbrennungen entschuldigen? Man sollte mal die Kirche im Dorf lassen“. Die Moderation wollte wohl das Hauptklientel des Senders nicht verprellen, denn so wirklich eingelenkt hat sie nicht, als holocaustverharmlosende Statements auf die Zuhörerschaft einprasselten.
Ich habe mir dieses Format schon einige male angehört und habe festgestellt: Viele der Anrufenden empfinden eine große „Sorge, Angst und Not“ und verlangen oft nach „schnellen Lösungen“. Nein! Es geht um mehr: eigentlich sehnen sie sich nach einer Befreiung. Hmmm…das ist auch noch zu harmlos formuliert…. eher so: Das versklavte bayerische (deutsche) Volk fleht nach einem Befreiungsschlag, der sie aus der Despotie entlässt, in der es lebt. Das Volk verlangt nach entschlossenem Handeln, ohne Zögern und langes Herumdiskutieren, damit es aus dieser unwürdigen Situation, in der es sich befindet, endlich herauskommt. Egal welches Thema – irgendwann landet man bei Sonntags um 11 leider fast immer in dieser Stimmungslage, denn die schiere Mehrheit der Anruferflut kommt aus diesem Spektrum.
Angesichts der Tatsache, das der BR jetzt einige Kulturfomate auf Bayern 2 einstampfen will, die wirklich eine tragende Rolle für die Kulturszenen und die interessierte Öffentlichkeit in Bayern spielen, frägt man sich dann schon…, aber das ist ein anderes Thema.
Ich sage nur: „Sorge, Angst und Not“! Man muss den Menschen ja eine Stimme geben, damit sie diese auch äussern können?!
Moment mal: „Sorge, Angst und Not“?
Hmm…was könnte uns Deutschen denn so viel Angst machen? Wir haben doch eine der stärksten Volkswirtschaften weltweit? Wir sind international hoch angesehen und unser Land befindet sich mitten im zentralen Europa, der konjunkturstärksten und sichersten Gegend auf dem gesamten Globus? Wir können reisen, wohin wir wollen. Wir verfügen über Freiheiten und Sicherheiten, von denen die Mehrheit Weltbevölkerung nur träumen könnte. Was geht hier vor sich?
Na, ja…vielleicht plagen uns eben genau „die“ Verlustängste, die man in anderen, viel ärmeren Regionen der Welt nicht hat, da man dort eh nichts mehr hat? Vielleicht haben wir uns so sehr an unsere bevorzugte Stellung gewöhnt, dass der Verlust nur eines Privilegs uns sofort panische Angst vor Statusverlust bereitet? Vielleicht ist Statusangst noch viel plagender und quälender als wirklich existentielle Not? Vielleicht haben wir aber auch ein schlechtes Gewissen, das uns ganz subtil seit Jahrzehnten begleitet, weil wir uns im innersten unseres Wesens unserer Privilegien durchaus bewusst sind? Vielleicht sind wir deswegen nicht von der Entwicklung des neoliberalen Wirtschaftssystems enttäuscht und verunsichert, sondern eher von dem demokratischen System, in dem wir leben und dem wir die Freiheit verdanken, dass wir überhaupt so lauthals herumkrakelen können?
Vielleicht ist das so, weil wir eine Art Stockholmsyndrom pflegen und kultivieren: wir sind verliebt in unsere Foltermeisterin, „die freie Marktwirtschaft“, welche by the way noch nie wirklich frei war und auch nie sein wird. Vielleicht sind wir ja in Wirklichkeit die Sklav*innen unserer eigenen Selbstgefälligkeit, Ich-bezogenheit, Bequemlichkeit und Gier geworden. Vielleicht haben wir uns einreden lassen, dass das nächste Jahrhundert genau so weitergeht, wie bisher: die Wirtschaft wächst und wächst und wir – das Volk – werden die Gewinner in einem wild entfesselten Haifischkapitalismus, der nur für uns arbeitet! Wir müssen nur Konsumwillig genug sein, unsere Jobs machen, Steuern zahlen. Ikea, Amazon, Google und Co. kümmern sich schon um unser Wohlergehen?
Vielleicht sind wir einfach nur naiv?
Leider glaube ich aber auch, dass einige unter uns boshaft und gemein sind. Ich glaube auch, dass es – nicht nur im bayerischen Umland – einige Menschen gibt, für die ein fließender Übergang von einer konservativen Weltanschauung bis hin zu einer rechtsradikalen Gesinnungshaltung besteht. Dieser Fakt ist unangenehm zu akzeptieren, aber es ist traurige Realität. Je früher man es erkennt, desto besser ist es. Ich schreibe das, weil ich es erstaunlich finde, wie viele – auch in meinem Umfeld – sich mehr über die Presse und die Empörung über die Flugblattgeschichte vom bayerischen Witzepräsident Hubsi Aiwanger aufregen, als über seinen offen unreflektierten, populistischen Umgang damit. Ich finde es auch gut, dass die SZ das Thema gross gebracht hat. Auch der Anstieg der Wählergunst in den Statistiken Juckt mich nicht. Das ist schon OK so. Es ist besser, wenn die Gesinnungshaltungen sich offen gebahren, als wenn sie sich hinter einer CSU-Attitüde verbergen. Offene Karten sind grundsätzlich immer besser.