Eine Haltung zum Nahost-Konflikt?

Eigentlich wollte ich keine politischen Kommentare mehr hier abgeben, aber angesichts der großen Tragödie, die sich wieder einmal vor aller Augen der Welt im Nahen Osten abspielt, kann ich nicht ohne.

Und ich muss gestehen: ich tue ich mich sehr schwer mit einer schwarzweissbasierenden klaren Haltung in dieser Angelegenheit!

Zumal ich die Entwicklung in der Region seit langem verfolge und es mir – wie so oft – scheint, dass die harten Gegenmassnahmen nichts – aber auch gar nichts bringen werden. Sie werden – genauso, wie es bisher erfolgt ist – nur die radikalen Kräfte beflügeln, das Blutvergiessen vermehren und den Konflikt noch weiter ausweiten. Auch wurde eine Eskalation in diesem Ausmass von Nahostspezialist*innen vorausgeahnt. Leider hat man sich entweder in zu großer Sicherheit gewähnt, oder man hat es einfach in Kauf genommen und sich schon lange auf die folgende kriegerische Auseinandersetzung vorbereitet. Nach dem Motto: „Pray for peace – prepare for war“.

Hamas und Hizbollah sind radikalislamistische Terrororganisationen und haben auch für mich keinerlei Legitimation, das palästinensische Volk zu vertreten. Das ist uns ja seit Jahren klar. Die Frage ist, was könnte sie politisch schwächen? Folgende Maßnahmen sind es wohl erwiesenermassen nicht:

  • 2 Millionen Menschen in Gaza leben seit Jahrzehnten im größten Freiluftgefängnis der Welt. Unter ihnen befinden sich vor allem wehrlose Kinder, Familien, ältere Menschen. Sie werden nun Opfer der Skrupellosigkeit der Hamas, aber auch der Ignoranz der Weltgemeinschaft, die sie den Vergeltungsschlägen der israelischen Armee aussetzt, ohne ihnen einen effektiven Evakuierungsplan anzubieten. Das ist völkerrechtswidrig – ob man das nun wahr haben mag, oder nicht.
  • Die Politik der harten Hand, die von Seiten Israels seit der feigen Ermordung Yitzak Rabin’s unvermindert durchgeführt wird, ist – komplementiert durch die stillschweigend geduldeten Landbesetzungen durch die Siedler im Westjordanland – ebenfalls völkerrechtswidrig.

Ich tue mich wiederholt schwer, Stellung zu beziehen neben Nationalfahnen und sonstigen Machtsymbolen. Lieber bekenne ich mich zur Solidarität mit der isreaelischen Opposition und allen Menschen in der Region, die mutig für den Frieden dort einstehen und dafür offen angefeindet werden. An die denkt man in Europa und im Westen am wenigsten.

Warum ich am Erfolg der harten Gegenoffensive zweifle? Ganz einfach: sie haben bisher auch nichts bewirkt! Den Amerikanern ist in der Sache am wenigsten zu trauen, nach dem, was sie nach 9/11 in Afghanistan und im Irak produziert haben. Dort haben sie nach etlichen Jahren des Krieges den Radikalistamist*innen sang und klanglos das Feld, und ihre Verbündeten vor Ort der Gewalt durch die Terroristen vor Ort überlassen. So wie die isreaelische Armee in den 90ern sich aus dem Westjordanland zurückgezogen und der Hizbollah einen politischen Triumph ermöglicht hat, ohne irgendeine nachhaltige Friedensstrategie.

Statt wildentschlossener Fahnenschwingerei braucht es effektive Friedenspolitik, die sich der Profitgier der Waffenindustrie und ihren Lobbies entgegensetzt. Nur so kann den Radikalislamisten das Handwerk gelegt werden. Leider zweifle ich sehr daran, dass das überhaupt erwünscht ist.

Benjamin Netanyahu hat noch nie aufrichtig dem Frieden zugearbeitet. Er hatte lange genug Zeit dazu gehabt, aber stattdessen hat er den Konflikt ständig angeheizt und auch die Hamas in ihrer Anfangszeit – als Pseudokorrektiv zum politischen Gegner PLO – bewusst unterstützt. Mit diesem Menschen kann im Nahen Osten nichts zu Gunsten eines nachhaltigen Friedens bewirkt werden. Ausserdem ist er ein korrupter Regierungschef, der einer Amtsenthebung nur deswegen entkommen konnte, weil er gemeinsame Sache mit den Ultrarechten im Lande macht und somit seine Immunität sichern kann.

Neben dem stehe ich nicht, sorry. Ich solidarisiere mich lieber mit all den unschuldigen Zivilist*innen auf beiden Seiten, die diesem menschenunwürdigen Konflikt seit Jahrzehnten zum Opfer fallen – all die Kinder, denen eine aussischtsreiche unbeschwerte Zukunft geraubt wird, auf die sie ein Menschenrecht haben, die Hinterbliebenen der Opfer auf beiden Seiten, den Geiseln und ihren Familien.

Das alles macht mich sehr traurig. Das zu äussern, ist mir ein dringendes Bedürfnis. Auch wenn mich einige wegen meines Bekenntnisses jetzt haten werden: ich finde es wichtig, sich zu seiner Menschlichkeit zu bekennen, bevor man sich zu etwas anderem bekennen kann. wie z.B. zu einem Gott, einer Nation, einem Volk, einer kulturellen Identität und zu all den Symbolen, die zu diesen Gehören – vor allem Nationalfahnen.

Der ganze Konflikt zeigt wieder einmal, wie überholt das Prinzip der nationalen und auch der religiösen Identitäen ist. Sie bieten kein tragfähiges Gerüst für unsere gemeinsame Zukunft und werden auch irgendwann passé sein, denke ich. Aber bis dahin werden sie noch eine Menge an Blut fordern, befürchte ich. Auch, was danach folgen soll, ist äusserst ungewiss und ist eben uns Menschen überlassen. „Wir“ müssen uns dafür entscheiden, in welcher Welt wir zukünftig leben wollen – vor allem müssen wir uns dafür entscheiden, sie zu erhalten.

In tiefer Trauer um alle Opfer des Nahostkonflikts und um die, die wohl leider noch folgen werden.

Triptonious Coltrane aka Tuncay Acar.

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