Dries Verhoeven und sein inneres Niemandsland

Eine Kritik von Triptonious Coltrane zum Stadtprojekt „Niemandsland“ von Dries Verhoeven, welches im Rahmen der Münchner Kammerspiele im Hauptbahnhofviertel in München durchgeführt wird.

Erstmal für alle, die gar keine Ahnung haben. Es geht um dieses Stück: http://www.muenchner-kammerspiele.de/spielplan/niemandsland/

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Die beste Szene war für mich die allererste. Ich durfte mit dramatischer musikalischer Beschallung über Kopfhörer unter der Tonne des Hauptbahnhofs in München stehen und diesen Trubel beobachten. Es war wie ein beeindruckender Vorspann zu einem spannenden Film. Gepäckwagen fuhren vollbeladen mit Koffern und Menschen vorbei – Menschen in all ihren Facetten. Menschen deren Geschichten sich verheißungsvoll im Raum auffächerten. Dieser Ort läuft jeden Tag nur so über von Geschichten, Schicksalen, Freuden, Erwartungen, Träumen, Dramen, Hoffnungen… wunderbar zu lesen in all diesen Gesichtern. Leider sollte im weiteren Verlauf des Projektes nichts an den Glanz dieser Szene anschliessen, was ich zu dem Zeitpunkt wohl innerlich ahnte, aber eigentlich nicht ahnen wollte.

Ich stand also nun da mittendrin mit einem Blatt Papier in der Hand, auf dem ganz groß „Nasrin“ stand. Ordentlich aufgereiht standen wir alle in einer Reihe vor den Apsperrungen der Gleise – wir, die wir teilnahmen an diesem Stadtprojekt. „Nasrin“ – das war wohl der Name meiner Führerin, die mich jetzt bald abholen würde, um mich mit auf eine Reise zu nehmen – mich, zusammen mit meinem digitalen Empfänger in der Tasche, aus dem klassische Musik als Soundtrack herausströmte und über einen Kopfhörer meine Sinne überströmte. Die Szenerie des Lebens am Originalschauplatz – die Realität als die reinste, die perfekte, die unüberbietbar gehaltvollste Form der Inszenierung spielte sich noch vor meinen Augen ab – berauschend!

Plötzlich tauchten jedoch einige von den Menschen in den Vordergrund – Frauen und Männer – fast alle mehr oder weniger dunkelhäutig, viele der Frauen kopftuchtragend, irgendwie mit bestimmten Codes und Merkmalen versehene Menschen eben. Sie tauchten aus dem Gedränge auf und standen mit verschlossenen Augen frontal der Reihe der TheaterbesucherInnen zugewandt in der Menge und bewegten den Mund, um ein Mitsingen des Musikstückes zu suggerieren, das gerade über den Kopfhörer lief. Die heterogene Struktur der realen Szenerie, die ich noch einige Sekunden vorher erleben durfte, wurde nun allmählich gebrochen durch eine klare Frontlinie. Die Bühne war nun installiert. Die DarstellerInnen hatten ihre Positionen eingenommen.

Der Vorspann neigte sich dem Ende zu, das Theater begann – jedoch mit einer entscheidenden Besonderheit: Vom Theater sind wir als BesucherInnen im generellen gewohnt, dass die Persönlichkeit der DarstellerInnen aufgeht in der Rolle, die sie spielen. Hier nahmen die DarstellerInnen die Rolle ihrer schon vorgegebenen migrantischen Identität auf. Sie spielten sozusagen sich selbst, oder zumindest Jemanden aus dieser – von Dries Verhoeven – als klar abgegrenzt formulierten Gruppe von Menschen. Sie befanden sich dort mit der Identität, die ihnen aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft zugeschrieben wird. Vorher war es ein reelles „Ineinander“, nun wurde es zu einem synthetischen „Auseinander“. Und die besagte Gruppe stand nun der meinigen (also den BeobacherInnen) frontal gegenüber. Die Gesellschaft war ab jetzt strikt geteilt – sehr strikt!

Schon diese Szene fand ich befremdlich. Das Identitätsbild „Migrant“ war nun auf der Alltagsbühne der Bahnhofshalle gesetzt und ich fragte mich instinktiv: „Wo stehe ich mit meinem bikulturellen Hintergrund denn? Wo ist nun mein Platz? Bin ich hier im Publikum denn überhaupt richtig? Oder müsste ich nun bei meinen „migrantopigmentierten KollegInnen“ stehen?

Instinktiv fühlte ich mich sofort unwohl. Sprich: Der Publikumssessel, den Dries für mich vorgesehen hatte, war mir jetzt schon zu eng und Dries hielt zusätzlich noch meinen Kopf fest und wollte mir eine Blickrichtung vorgeben. Ich als Mensch mit multiplen sozialen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Erfahrungen habe aber viel zu viele Perspektiven im Kopf, um mich auf eine zu beschränken, also sah ich weiterhin um mich und sättigte mich instinktiv an jeder Sekunde des Alltagstrubels – ahnend, dass die Reise, die jetzt folgen würde, wenig für mich zu bieten haben würde.

Nun dachte ich an meinen Konterpart. Ich sah sie vor meinem inneren Auge schon auf mich zukommen: „Nasrin“. Ich sah ihren freundlichen wohlgesonnenen und einladenden Gesichtsausdruck, ihre zuvorkommende Art, ihre Freundlichkeit, ihr Gebahren, ich sah ihre Rolle und ich hoffte nichts dringlicher und sehnlicher, als eine überraschende Nichterfüllung meiner instinktiven Erwartung. Ich als paganer Vielgötterverehrer betete nun in diesem Moment. Ich betete den Gott des Hauptbahnhofes an. Ich sagte: bitte lass mich überrascht sein. Lass mich Dries Verhoeven annehmen mit seiner Perspektive. Oh Gott des Hauptbahnofes, verleih ihm die Eingebung, mir und meinesgleichen die Freiheit zur Entfaltung der eigenen Perspektiven zu gönnen. Ich betete innerlich um eine Brücke in der Dramaturgie, die mir zeigte, dass dieses Stück schon auch für mich gemacht war, dass die Kammerspiele auch Geschichten produzieren können, in denen ich ebenso als Adressat in der Zielleiste eingetragen bin. Aber es sollte mir leider – wie so oft – nicht vergönnt sein.

Nasrin kam und agierte genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte, genau so, als ob ich sie schon ein Jahrhundert kennen würde. Was danach passierte, war tatsächlich alles andere als spannend. Es war sehr langweilig. Ich kam mir sehr albern vor, hinter jemand stummen herlaufen zu müssen, während mir eine Stimme aus dem Off Nasrins Lebensoptionen auflistete. Nasrin könnte dies, könnte das, sie könnte gefoltert worden sein im Iran, sie könnte gut deutsch sprechen, sie könnte jemanden ermordet haben, ich könnte verwundert sein, sie könnte nur so frustriert klingen, aber im Grunde könnte sie das gar nicht sein wollen können müssen dürfen und und und… die Optionen der Geschichten wurden immer abstruser und in einem wilden Stakkato lediglich immer nur angerissen – auf eine sehr plumpe, plakative und aufdringliche Art und Weise wie ich übrigens fand – und es waren zum Großteil sehr dramatische, traumatische Optionen. Die Stimme aus dem Off gehörte wohl einer deutsch-deutschen biologisch reinen sehr betroffenen Sprecherin und war so beschaffen, dass sie einen innerhalb von einer Stunde schwer depressiv machen konnte.

Wie denn auch nicht? Die positiven Optionen in diesem migrasmischen Drama einer Nasrin waren schließlich sehr dünn gesät. Nasrin könnte (immer schön im Konjunktiv) nämlich eigentlich nur eine missverstandene, unterschätzte, schlecht behandelte, frustrierte, eine traurige, eine hart vom Leben gezeichnete Person sein, etwas anderes hingegen nur schwer, so schien es.

Die Stimme aus dem Off machte diese Sachlage im sturen Konjunktiv immer klarer und klarer und gleichzeitig mir als Besucher des Stückes auch ständig subtile Vorwürfe. Ständig nahm sie an, dass ich mir ein normales Leben dieser Nasrin gar nicht vorstellen könne, dass mich die Dramen ihres Lebens nie berühren würden, das ich wohl nur so tun würde, als ob ich Empathie zeigte, aber die Wirklichkeit dieser Gesellschaft sich in Form einer eisernen Trennlinie tonnenschwer zwischen sie und mich legen würde und ich diese wohl nie überwinden könne. Dabei war ich ihr doch schon total nahe verdammt? Mist! Ich war doch wie sie eigentlich? – ich war im falschen Plott gelandet! Das war wie in den Urlaub fliegen und nach ein Paar Schleifen wieder im Ausgangsflughafen landen.

Nun fing sie auch noch an zu tanzen zu diesem indischen 70’er-Jahre Popsong, den ich so gerne mochte! Ich wollte mit ihr zusammen auf einer Höhe laufen, um diese Wonne mit ihr zu teilen, doch sie machte mir sehr bestimmt die Regieanweisung klar: „Bleib bitte hinter mir und bleib auf Distanz! Wenn ich mich jetzt hier amüsiere, dann ist das keine Einladung für dich, es mit mir gemeinsam zu tun. Was du da hinter mir machst, ist mir einerlei. Ich tanz dir jetzt mal einen vor und du und das ganze Viertel schaut mir dabei zu. Bin ich nicht cool? Bin ich nicht eine arschcoole migrantistische Laiendarstellerin? Wie toll, nicht? Die Kammerspiele – DIE KAMMERSPIELE – bieten mir, JA MIR eine Möglichkeit, dich jetzt mal auf deine Vorurteile zu hinzuweisen. Na Erwin? Hast du so etwas schonmal erlebt?“

Das Problem war nur, dass ich nicht Erwin war. Ich bin immer noch der Tuncay….Und das schlimmste waren all die Leute, die mich komisch ansahen, weil sie wohl dachten ich renn der Frau jetzt hinterher, um sie dumm anzulabern.

Spätestens in diesem Moment wurde jedoch wieder einmal klar: Ich bin in dieser Situation als ein Mitglied der weissen Mehrheitsgesellschaft angesprochen. Ich bin gerade der durchschnittliche Theaterbesucher. Ich bin nicht Ich. Ich habe deutsch-deutschen Bildungsbürgerbackground, oder ich bin Else, die Hausfau mit Jahresabo, oder ich bin doch Erwin der Gymnasiallehrer, oder ich bin Brian, der vor Jahren als Austausstudent aus Irland kam und seit Jahren bei dieser Agentur im Lehel arbeitet und und und und….Aber ich bin nicht Ich in diesem Moment. Ich bin eben „nicht“ der Tuncay, dessen Eltern 1967 bei BMW am Fliessband zu arbeiten angefangen haben, ich bin nicht der Mehmet, der Filmproduzent, der in Blumenau aufgewachsen ist, ich bin nicht Özlem, die seit Jahren beim Radio arbeitet und immer nur für die Migrationsthemen zuständig ist. Ich bin auch nicht die Fatma, die jeden Tag beim Gemüsehändler an der Kasse sitzt. Ich bin nicht der Bruder von Theodoros, der 2005 im Westend von der NSU ermordet wurde. Ich bin nicht Famadi, der großartige Percussionist, mein Idol. Ich bin nicht Laye Mansa, mein Freund Laye Mansa, der mit geschlossenen Augen in der Menge am Hauptbahnhof stand – mein Freund Laye, der großartige Musiker, der sich herablässt, sich hier als Laiendarsteller zu verdingen für paar Euro fünfzig. Leute wie Laye sind die stummen Guides. Und ich müsste jetzt eigentlich auch dort stehen, wo Laye steht.

Aber wie vermessen bin denn ich, dass ich annehmen könnte hier als Zuschauer adressiert zu werden? Ich gehe hier mit, um mir ein Bild von diesem Stück machen zu können. Aber nicht als Besucher. Ich gehe hier mit als Kritiker, als kritisches Subjekt, dass sich seine Position selber geschaffen hat. Eigentlich habe ich hier doch nichts verloren? Ich wurde ja auch von der Presse eingeladen, sonst wäre ich ja gar nicht gekommen. Was soll ich denn auch da? Ich weiss doch im Grunde, was auf mich zukommt. Ich kenn das doch schon seit Jahren.

Und ich höre meine Freunde jetzt sagen: „Tuncay tu doch nicht so entrüstet, das ist doch schon immer so gewesen. Was regst du dich jetzt plötzlich so auf? Du bist nicht eingeladen. Offiziell vielleicht schon, aber faktisch warst du es noch nie. Denn was einen einlädt ins Theater ist doch der Inhalt, das Format, das Angesprochenwerden, das Adressiertwerden. Du hingegen kannst da sein, oder nicht, kannst dich dazu äußern oder nicht, kannst seitenweise Texte schreiben und kritisieren. Im Grunde hat das nichts beizutragen, es hat von sich aus keine Schwere, keine Relevanz“.

Aber ich weiss: die Relevanz habe ich nur, wenn ich so laut brülle, dass die Presse und die Kulturlandschaft aufmerksam wird. Nur dann habe ich Relevanz. Als Teil dieser Gesellschaft bin ich jedoch in diesem Theater völlig IRRELEVANT!

Und Nasrin? Laye? und all die anderen, die dieses Spiel mitspielen? Anscheinend hat es ihnen nichts ausgemacht, oder sie haben wirklich nur ihre Rolle gespielt – diese eng geschnittene Rolle, in der sie ja eigentlich doch wieder nur sich selbst verkörpern können. Wen sollen sie auch spielen, wenn nicht sich selbst? Den Erwin, den Karl, die Gertrude, den Louie? Schau sie dir doch mal an: sie können doch im Endeffekt nur sich selbst spielen: den Migrantasten mit dem millieuspezifischen Lebensdrama.

Nun  wie dem auch sei. So zog sich das ganze über die Bayerstrasse zur Schwanthalerstrasse, von dort zur Theresienwiese In einer unendlich scheinenden Schleife der Nonkommunikation bin ich Nasrin gefolgt und habe mir ihre Dramaoptionen angehört, die wohl meine vermeintlichen Vorurteile ihr gegenüber formulieren sollten – also eigentlich die Vorurteile mir selbst gegenüber. Ich folgte ihr also als der prädestinierteste Fehladressat, den man sich in einem solchen Stück nur vorstellen kann und hoffte auf einen Ausbruch. Aber er kam nicht. Die Stimme aus dem Kopfhörer hämmerte auf mich ein und liess mir kein bisschen Freiheit für meine eigene Empfindungswelt – ich war in Dries‘ verschrobenen Perspektiven gefangen und er stülpte sie uns Wort für Wort über. Er hatte uns in ein sehr enges Korsett geschoben und machte uns klar: „Diese Gesellschaft hat ein Kommunikationsproblem“.

Wie recht er hat! Am meisten leidet er selbst darunter. Gut, mag ja sein. Nur: ist das wirklich was grundlegend neues? Das weiss ich schon seit meiner Geburt und Dries weiss es seit 7 Jahren, als er festgestellt hat, dass seine Putzfrau eigentlich eine Ausbildung hat, aber keine Arbeit findet, weil passt nicht, sieht nicht entsprechend aus, hat den falschen Nachnamen, was weiss ich… Das ist tatsächlich nach eigener Aussage der Grund, warum Dries angefangen hat, sich mit migrantomanischen Themen zu beschäftigen, weil er zu der spektakulären Einsicht kam: In dieser Gesellschaft haben wir ein Problem. Aha?

Nun, wie gesagt: Das wissen wir ja alle. Über die Phase, in der man Probleme noch sichtbar machen musste sind wir schon lange hinaus. Wir liegen schon seit Jahrzehnten mittendrin, wie in einer Jauchegrube. Wer solch ein Stadtprojekt braucht, um das erstmal wahrzunehmen, der hat wirklich ein Problem. Diese Thematik wird mitlerweile seit Ewigkeiten schon von Standupcomedians parodiert, die wie Pilze aus dem Boden schiessen.

Ich erwarte als Theaterbesucher jedoch neben diesem allseitsbekannten Fakt auch eine bewegende Geschichte, aber Dries gibt uns nur einen Sack voll angefanger Optionen, scheinbar wahllos aneinandergereiht und gespickt mit Stereotypen, dargebracht von einer depressiven Stimme aus dem Off und visualisiert von einer Darstellerin, die nicht sprechen darf, die mich nicht berühren darf, die auf Distanz bleiben muß und gefangen ist in ihrer Identitätsbürde. Ich dachte mir ganz in Kanakenmanier: „OK, dann eben keine Story, ist ja ein Experiment, passt alles, aber wenn nach dem Affentanz nicht irgendwas kommt, was mich Emotional auf den Mars katapultiert, dann reiss ich euch nachher den Arsch auf, ich schwör!“

Dann spielte ich kurz mit dem Gedanken, selber auszubrechen – ihr ihre Kopfhörerstöpsel aus den Ohren zu reissen, sie an der Schulter zu packen, durchzuschütteln und zu fragen: „Warum machst du das, Nasrin? Warum? Warum? Für paar Euro fünfzig? Für die Referenz? Erhoffst du dir Erlösung, Nähe, Herzlichkeit? Warum bist du so ein Schaf Nasrin? Warum machen wir nicht selber sowas und lassen all die Dries Verhoevens dieser Welt mit Kophörern in irgendwelchen Vierteln rumlaufen, drücken ihnen Identitypolitics-Propaganda rein und lassen uns das finanzieren vom Steuerzaler? Das ist doch nicht sooo schwer Nasrin? Rede ich mit mir selber? Bin ich eigentlich Nasrin?

Aber dann entschied ich mich dafür, gerade dies eben nicht zu tun. Denn das würde ja wohl wieder der Gegenargumentation dienen: „Ja, du hast ja das Stück nicht in Ruhe und unvoreingenommen bis zum Ende angesehen. Du verlierst ja ständig die Contenance und intervenierst ja nur. Du machst ja Politik! Wir hingegen machen Kunst, bla bla bla bla“. Deswegen habe ich mich dem harten Korsett der Darbietung ergeben und bis zum bitteren Ende weitergemacht.

Im weiteren Verlauf schlug die Farce Kapriolen. Nasrin blieb wieder einmal vor mir stehen (ein schöner Rücken kann entzücken) legte eine Mandarine, oder Orange ins Wurzelwerk eines Baumes und drehte sich um, um mir mit einem Kopfwink zu suggerieren, dass ich sie mir nehmen darf. Ab diesem Moment war das Stück vollkommen auf das Wohlwollen des Zuschauers angewiesen. Es wurde langweiliger und langweiliger. Diese synthetische Pseudomystik machte mich schier wahnsinnig.

Am Ende flossen dann alle Darsteller-Besucher-Päärchen wie die Lemminge auf die Theresienwiese – die DarstellerInnen tanzten und schwangen die Arme – die BesucherInnen trotteten hinterher – beide wurden im Grunde ihrer Eigenständigkeit und ihres Seins beraubt. Sie waren alle Teil von Dries‘ verschrobener Optik geworden. In mir explodierte ein Wut-Vulkan. Ich war kurz vor dem Würgereiz und die liebe Nasrin machte das Ganze mit ihrem naiven Gehampel auch nicht gerade besser.

Die Hoffnung leuchtete am Horizont. Ich spürte, wir kamen dem Ende nahe: wir erreichtenn eine Reihe von kleinen Kabinen, die aussahen wie am Husumer Strandbad anno 1942 nur etwas KZ-mässiger. Nasrin öffnete die Türe und liess mich ein. Drinnen ein Stuhl. Als Gentleman setzte ich mich natürlich nicht gleich und wandt mich ihr zu. Auch dies ein Affront gegen die Regieanweisungen scheint es. Sie wies mich bestimmt darauf hin, mich zu setzen. Ich dachte: „Erstaunlich wie unterwürfig sie dieses Spiel mitmacht! Sie erfüllt die vertragliche Abmachung bis zum letzten Buchstaben“.

Dann kam der krönende Abschluß: sie schloß die Tür – es war komplett dunkel. Wir sind alleine. Sie nahm mir die Kopfhörer ab, legte ihre Hände auf meine Schultern und ich freute mich und dachte: „Jetzt spricht sie endlich! Jetzt bricht sie aus der Wortlosigkeit aus, zitiert, Goethe, Schiller, Tolstoi, Marx, Lenin, Mark Twain, Angela Merkel, Putin … was weiss ich was – irgendetwas, dass mir etwas sagt, das meinen Intellekt beansprucht, das uns die Chance gibt uns auf menschlicher Ebene zu verständigen und uns nicht nur wie Tiere zu taxieren“.

Und was machte sie? Sie murmelte unverständlichen Schamanengesang, der für mich unverständlich blieb. Wahrscheinlich wurde sie aufgefordert, ihr Lieblingslied zu singen in ihrer Sprache. Und weil sie nicht singen konnte, oder so hat sie irgendwelche fiktive Lautsprache spontan für mich improvisiert. Aber sie hat nichts gesagt! Auch ein Lied kann so vieles sagen, Poesie, Lyrik…Warum nicht, Dries? Warum? Warum müssen diese Menschen so stumm bleiben? Warum so unverständlich? Warum so undefininiert?

Hast du Angst vor ihnen, Dries? Nach 7 Jahren Niemandsland in den Niederlanden, in Athen und sonstwo. Nach 7 Jahren hat sich da nix getan? 7 Jahre Stillstand? Immer noch kein Schritt auf das ewig Fremde in dir selbst? Armer Dries. 7 Jahre Theatertherapie und kein Resultat? Armer Dries Verhoeven!

Denkst du überhaupt daran, wie ich mich fühle hier in dieser komischen dunklen Schachtel? Keine Story, kein Erzählstrang, keine Sprache, gar nichts. Eigentlich wie im Knast. Eigentlich eiskalt und faschistoid. Müssen sich alle Guides, die sich vor den Kabinen in Reihe aufgestellt haben sich abwenden und gehen, ohne ein Wort gesprochen zu haben, so das ich nur noch ihre Abgewandtheit sehe und das auch nur in einer projezierten Liveübertragung von Aussen?

Achtung, Achtung, die armen traumatisierten Migranten gehen jetzt und lassen dich alleine, Erwin. Na, was machst du jetzt mit deinem dunklen schlechten Gewissen?

Ja, klar – du gehst ins nächste Kammerspielestück und suchst weiter nach dem Menschen in dir!

Welches Niemandsland ist das Dries? Das ist das Niemandsland einer trockenen Gewissenslandschaft. Das mag dein Verhältnis mit der Welt wiederspiegeln und du magst das so in deiner künstlerischen Freiheit verarbeiten, aber was haben die von dir einer bestimmten Farbskala entsprechend ausgesuchten Menschen damit zu tun? Warum willst du deine persönlichen inneren ungereimtheiten auf dem Rücken eines aktuellen gesellschaftlichen Diskurses abarbeiten, der mit deinem privaten Hirnfick nichts zu tun hat?

Fazit:

Ich finde das Stück von Dries Verhoeven nicht nur misslungen, sondern auch rückschrittlich, perspektivlos und starr, da es bestimmte Schichten ganz bewusst als Publikum ausschließt. Es ist das Projekt eines inkompetenten und schlecht informierten Menschen, der keinerlei Bezug zu dem Thema hat, das er da behandelt. In dieser Form entspricht dieses Stück in keiner Weise dem hohen gesellschaftspolitischen Anspruch, den sich die Kammerspiele auf die Fahne schreiben.

Noch dazu fördert Dries Verhoeven auf eine sehr unreflektierte Weise Bilder, die Stereotypen unserer Gesellschaft reproduzieren und zementieren. Obwohl er vorgibt Hinterfragungen von Klischees durchzuführen, ist er selber stark befangen durch seine einseitigen Perspektiven, aus denen er auch nicht herauskommt. Dries Verhoeven hinterlässt den Zuschauer inmitten seiner eigenen (Dries‘) Hilflosigkeit, die ich alles andere als spannend finde. Diese Hilflosigkeit kenne ich gut. Aus meiner eigenen Lebenserfahrung habe ich sie immer wieder gut kennengelernt. Es ist die Hilflosigkeit eines eitlen Vertreters einer postkolonialen Genealogie.

Woraus ich das erschließe? Nun ich habe einige Emaildispute mit ihm gehabt. Ich habe auch nach der Aufführung die Gelegenheit gehabt mit ihm zu sprechen. Dries hegt Ängste, die für die weisse europäische Mehrheitsgesellschaft typisch sind. Er empfindet kopftuchtragende Frauen als Symbole des Migrationshintergrunds und führt sie auch immer als Beispiele vor. Türkische Frauen mit Kopftuch empfand er – nach eigener Aussage – immer schon als Gespenstergestalten, die nicht an Kommunikation interessiert sind. Sie ignorieren ihn in seinem eigenen Land und damit hat er ein Problem. Er hat aber auch ein Problem mit seinen eigenen Vorurteilen. Er ist ein stark vorurteilsbehafteter Mensch. Mit diesem Stück bearbeitet er diese Vorurteile jetzt schon seit fast 7 Jahren.

Dies mag aus persönlicher Sicht legitim sein. Jedoch behaupte ich, dass man seine Privattherapie nicht auf Kosten der Steuerzahler betreiben kann. Die Zeit ist vorangeschritten und man muß neue Formate suchen. Die Gesellschaft verändert sich rapide und das Theater muß sich mitverändern. Dieses Format kann noch 20 Jahre so weiter funktionieren, aber das wäre eigentlich doch ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, oder nicht Dries? Und es könnte auch bedeuten, dass dieses Format, die engen Perspektiven, die es braucht um zu funktionieren reproduziert und somit weitererhält, sozusagen als perpetuum Mobile der Klassengesellschaft.

Ich würde also behaupten, dass dieses Format von Niemandsland – um funktionieren zu können –  im Grunde die Gesinnung schaffen und erhalten muß, die uns daran hindert, uns als Gesellschaft weiterzuentwickeln.

In 7 Jahren Niemandsland wäre eigentlich eine prozessuale Entwicklung zu erhoffen gewesen, aber die hat wohl nicht stattgefunden. Im Gegenteil – die Spirale dreht sich nach innen. Die Mehrheitsgesellschaft wird introvertierter und sieht mit Neid und Ungläubigkeit den Vertretern der kulturellen Vielfalt angstvoll zu wie sie selbstbewusster und selbstbewusster werden. Armselig verstecken sich die Vertreter der Hochkultur hinter ihren Schießscharten und leben die letzten Gelegenheiten aus, ihre kulturelle Übermacht zu zelebrieren.

Dries sagt, er mache dieses Stück, weil es immer noch funktioniere. Frägt sich nur, für wen es funktioniert?

Dumm gelaufen für all diejenigen Menschen von Farbe, die noch nicht gemerkt haben, dass für sie eigentlich jetzt die Zeit gekommen ist, von der Laiendarsteller- und Statistenrolle in die Rolle der AkteuerInnen zu wechseln und ihre eigenen Inhalte zu inszenieren.

Schade Laye Mansa, schade Nasrin, schade Sanaz, schade Ahmet, schade Ally, schade schade schade…ihr habt euch sehr leicht entmündigen lassen von eitlen überheblichen Menschen, denen eure Geschichten leider egal sind, weil ihre Gedanken nur um ihre eigenen kulturhegemonialen Sorgen kreisen.