Die Suche nach dem Taqwacore

Es melden sich ja so einige Menschen bei mir tagtäglich mit betimmten Anliegen. Entweder fragen sie nach Tips für ihren nächsten Istanbulurlaub, nach einem Interview zum Thema urbane Freiräume und Zwischennutzungen, oder nach türkei- und islamspezifischen Fragen.

Dabei habe ich von Islam keine Ahnung. Der Islam interessiert mich im Grunde genausowenig, wie alle anderen monotheistischen Religionen. Ich bin eher polytheistisch veranlagt. Das rührt wohl von meinem Archäologiestudium her und meiner Begeisterung für die griechische Mythologie. Spiritualistische Naturreligionen haben es mir eher angetan.

Zu den anderen genannten Themen weiss ich dann schon eher was. Zum Beispiel habe ich eine Vorliebe für türkische Musik aller Arten. Arabesk mag ich gerne, türkische Klassik, türkische Kunstmusik, Volksmusik und natürlich türkischen Pop, Punk, Rock, etc. auch.

Die witzigste Anfrage hatte ich auch zu diesem Thema. Da rief mal eine Jounalistin von ARTE an, die die Empfehlung wohl von irgendwem erhalten hat. Sie fragte mich, ob ich ihr von einem musikalischen Phänomen aus Istanbul namens „Taqwacore“ erzählen könne. Ich war verwundert. Diesen Begriff hatte ich noch nie gehört und fragte zurück, ob sie sich sicher wäre, dass es sowas in der Türkei überhaupt gibt? Sie war sich ziemlich sicher, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass das woanders entstehen hätte können.

Daraufhin wollte ich wissen, was das überhaupt sei und sie antwortete, dass das eine Art radikalislamistischer Straight Edge Hardcore wäre.

Ich war baff! Konnte es möglich sein ,dass so eine Szene in Istanbul existiert und ich nichts darüber weiss? Für einen kleinen Moment war ich verunsichert, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass so etwas in der Türkei existiert. Die konservativ sunnitische Gesinnung sieht unter Punk und Hardcore eher eine satanistische Grundlage verborgen. Unter diesen Umständen konnte ich mir so eine Musikform in der Istanbuler Islamistenszene nicht vorstellen. Aber ich hatte da einen Verdacht: die einzigen, die so bescheuert sein können, sind die Konvertiten. Und mein Instinkt sollte recht behalten. Also hier die Aufklärung. Taqwacore kommt aus dem Westen. Die angelsächsische Kultur ist anscheinend ein idealer Nährboden für kreativen Fundamentalismus:

http://www.taqwacore.com/
http://www.taz.de/!106360/

Antwort von Philip Decker…

Der Fairness halber poste ich hier mal die Antwort von Philip Decker auf meine fordernde Attacke. Er hat mit diesem Text meinen Post kommentiert. Damit der Kommentar nicht untergeht poste ich ihn hier noch einmal:

Philip Decker sagte am :

Hallo Tuncay!

Ich kann Deinen Ärger über den Umgang der deutschen Kulturpolitik mit dem Thema Migration absolut nachvollziehen und hoffe meinen Teil dazu beitragen zu können, dass es zu dieser Deiner geforderten Diskussion und Auseinandersetzung kommt.

Klar fühle ich mich gerade etwas zu prominent in dieser Angelegenheit angesprochen, denn ich habe in dem Moment in dem ich meinen Aufruf geschrieben habe, zu aller erst an meinen Auftrag und nicht an die kulturpolitische Tragweite des sogenannten “Migrationstheaters” gedacht.

Da könnte man gleich noch eine weitere Diskussion über Lebens- und Arbeitsbedingungen im sogenannten Kulturprekariat dranhängen, aber dafür bin ich wohl zu jung oder dumm, habe zu viel Lust für und im Theater zu arbeiten und davon zu leben und bin somit noch nicht an meiner Frustrationsgrenze angelangt. Die ist bei Dir und vielen anderen offensichtlich erreicht.

Morgen leite ich Deinen Aufruf an die Münchner Kammerspiele weiter und ich hoffe, dass sich daraus ein wirklicher Diskurs zu diesem Thema ergibt, der dann auch seine Konsequenzen in der Kulturpolitik findet.

Trotzdem möchte ich das Projekt “Niemandsland” an dieser Stelle noch kurz verteidigen, denn es geht darin tatsächlich vielmehr um die Hinterfragung der Perspektive des Zuschauers auf das Thema Migration als um eine Zurschaustellung der Migranten. Damit zielt das Stück genau auf das ab, was sich ändern muss, damit diese Diskussion die Du führen willst fruchtbar ist: Unsere Sicht auf uns selbst und nicht die Sicht auf andere.

Freundschaftliche Grüße,

Philip

Neues Stadtprojekt der Kammerspiele in München: Osteuropäische Schwarzarbeiter besuchen neureiche Versicherungsmanager in Bogenhausen

Liebe FreundInnen, die meinen Blog und meine Emails schätzen. Liebe interessierte LeserInnen, die nicht wissen, was sie davon halten sollen, aber auch nicht mutig genug sind, ihn abzubestellen. Liebe stummen Zaungäste.

Ich wende mich an euch alle, denn so allmählich geht es mir ordentlich auf den Keks, dass….

…der deutsche Kulturbetrieb (und damit meine ich auch den, der sich gerne mal auf der Gegenseite des Establishments sieht, wie zum Beispiel die Münchner Kammerspiele), immer noch nicht in der Lage ist, von seiner dämlichen Überheblichkeit herunterzukommen.
Wie ich darauf komme? Weil ich gerade eine Rundmail erhalten habe von meinem Freund Philip Decker, der gerade als Produktionsleiter ein Theaterprojekt des niederländischen Regisseurs Dries Verhoeven namens „Niemandsland“ betreut, wofür migrantische Mitspieler gesucht werden. Alles schön und gut, nur wird der/die MigrantIn wieder einmal dazu aufgefordert, einigen „bio-europäischen“ Gästen sein migrantisches Leben in seinem „migrantisch geprägten“ Viertel zu erklären.

Ich bin mir sicher, das ist ein toll durchdachtes Konzept von dem Dries Verhoeven, aber dieserlei Projekte gab es doch schon zu Hauf. Hört doch auf damit, verdammt! Der Stoff ist durch Leute! Ausserdem finde ich es so dermassen peinlich, immer nur aus der bequemen Rolle des neugierigen Voyeurs auf das vermeintlich „Fremdartige“ zu blicken. Begreift es endlich Schnuckis: „IHR SEID DIE MIGRANTEN, IHR SEID DIE ALIENS“ und nicht umgekehrt. Ihr begreift nicht, dass ihr schon längst eingetürkt seid, genauso sehr wie ich eingedeutscht bin!

Ihr wollt es nicht wahrhaben, aber bin ich derjenige, der lecker Döner frisst bei jeder Gelegenheit und der Branche zu reissendem Umsatz verhilft? Nein! ICH MAG NÄMLICH KEINEN DÖNER.

GUTEN APPETIT – ICH HABE DAMIT NIX ZU TUN UND ICH WERDE EINEN TEUFEL TUN UND EUCH ZUM DREITAUSENFÜNFHUNDERTSTEN MAL „MEIN MIGRANTISCHES BAHNHOFSVIERTEL“ ERKLÄREN! BIN ICH KASPERLE ODER WAS? DAS IST AUCH EUER VIERTEL VERDAMMT. GUCKT ES EUCH HALT AN. IST DOCH AUCH EUER LAND, EURE STADT, EURE GESCHICHTE, ODER NICHT?

Lasst uns doch lieber mal den Spiess umdrehen und einen neureichen Versicherungsmakler, Banker, oder Immobilienhai eine Stadtführung durch das Bogenhausener Villenviertel durchführen, der bulgarischen Schwarzarbeitern sein Leben und sein Viertel zeigt.

Das macht in der jetzigen Situation, in der wir uns alle befinden, wesentlich mehr Sinn!

Ich fordere von den Kammerspielen München eine Aussprache, über dieses Thema und zwar öffentlich!
Daran können sich dann Vertreter des Volkstheaters und des Residenztheaters auch beteiligen!

Und da können wir uns gerne auch mal über das Thema unterhalten, warum sich fast 99,9 Prozent der migrantisch-stämmigen Kulturschaffenden, KulturarbeiterInnen, Regisseure, Intendanten, SchauspielerInnen einen wohlklingenden „weissen“ nachnamen aneignen müssen, wenn sie in diesem Land Karriere machen wollen?

wie z.B.

Shermin Langhoff
Tim Seyfi
Ersan Mondtag

und und und…

Glaubt es mir, mir hängts zum Halse raus.

Bitte liebe Freunde und Freundinnen von der deutschen „Leidkultur“. Versteht mich nicht falsch. Ich habe euch echt gerne und ich weiss, ihr meint es nur gut mit uns. Aber ihr müsst eines endlich begreifen:

WIR MEINEN ES AUCH GUT MIT EUCH!

Unten die besagte Email. Ich fordere alle migrantischstämmigen Menschen auf, dieses Projekt zu boykottieren!

Gruss

Tuncay
Anhang:

Aquisitionsmail der Kammerspiele auf der Suche nach Mitspielern bei dem Stadtprojekt Niemandsland von Dries Verhoeven:

Sehr geehrte Damen und Herren, mein Name ist Philip Decker, ich bin seit der Spielzeit 13/14 künstlerischer Produktionsleiter der Münchner Kammerspiele, einem der renommiertesten deutschen Stadttheater und Gewinner der Auszeichnung „Theater des Jahres 2013“. Ich wende mich mit folgendem Anliegen an Sie: Im Sommer 2014 werden wir die Theaterproduktion „Niemandsland“ des niederländischen Regisseurs Dries Verhoeven zu Gast in München haben. Es handelt sich hierbei um einen Stadtspaziergang, bei dem jeweils ein Mensch mit Migrationshintergrund einen Theaterzuschauer durch ein migrantisch geprägtes Viertel (in München das südliche Bahnhofsviertel) führt, wobei dieser per Kopfhörer viele mögliche Geschichten der „Migration“ hört. Ziel ist es die Perspektive des Zuschauers auf ihren Wegweiser und das Thema Migration insgesamt zu thematisieren. Hierfür sind wir auf der Suche nach insgesamt 12 Spielern, die Lust haben Ihre Perspektive auf das Thema Migration in München mitzuteilen und darzustellen. Anbei schicke ich Ihnen unsere Suchanzeige, es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie diese an Interessierte weiterleiten und vielleicht sogar aushängen könnten. Ich danke Ihnen für die Mithilfe und stehe Ihnen bei Fragen selbstverständlich zur Verfügung,

Mit freundlichen Grüßen, Philip Decker