Der Meisterakrobat von Panama

Er stand inmitten seines geräumigen Büros. Die Telefone surrten und bimmelten. Keiner war sonst da, er hatte alle Mitarbeiterinnen und Angestellten hinausgeschickt, und ihnen gesagt, sie sollen eine kleine ausserplanmässige Pause einlegen, sich für eine halbe Stunde in irgendeines dieser kleinen schicken Businesslounge-Cafés setzen. Er konnte ihre Blicke nicht mehr ertragen, ihre besorgten Blicke, ihre kurzen Atemstösse, ihr Ächzen und Schnaufen.

Nur kurz alleine sein. Ganz kurz nur. Das war alles, was er sich gewünscht hatte. Er klammerte sich an diesen Moment im vollen Bewusstsein, dass eine solche Stille in den nächsten Tagen und Wochen nur selten wiederkehren würde.

Da stand er nun in seinem gewöhnlich schicken Anzug und wunderte sich nur. Seit Jahren betrieb er jetzt schon dieses Geschäft. Für ihn war es reine Routine. Aber seit ein paar Tagen war sein Leben völlig auf den Kopf gestellt. Der Tag donnerte dahin wie ein Tsunami und schien alles mit sich zu reissen. Er spürte förmlich den Druck der Ereignisse auf seiner Haut. Der Stoff seines Hemdes zerknitterte darunter. Sein Körper war schweissnass. Klebriger, kalter Schweiss rann an seinem Oberkörper entlang. Sammelte sich in Falten und Ritzen seiner Haut, sammelte sich und vereinzelt schossen die eisigen Tropfen weiter. Sie fühlten sich an wie winzige Murmeln, die ihn für einen Bruchteil der Sekunde zusammenzucken liessen.

Sein Büro ist zur Hölle geworden. Die Mittelsmänner des FBI, die Sonderkommission, Staatanwälte, Polizisten, Journalisten. Ständig klingelte es. Er traute sich gar nicht mehr den Computer einzuschalten. Wie ein getriebenes wildes Tier im Käfig lief er hin und her, zwischen der getönten Glasscheibe mit Ausblick auf die Panoramaterrasse und seinem ausladenden, gewundenen massiven Bürotisch aus edlem dunklen Tropenholz.

Es fühlte sich komisch an. So als ob er zusammen mit dutzenden anderen Akrobaten auf dem Trapez zugange gewesen wäre und plötzlich gerade die Halterung riss, die sein Arbeitsgerät an der Decke des Zeltes verankert hielt.

Die bittere Gewissheit tritt wohl Blitzschnell ein in einem solchen Moment? In Sekundenbruchteilen nahm er die erschreckenden starren Blicke seiner Kolleginnen und Kollegen wahr, Sie schienen alle etwas zu wissen, was er nicht wusste. Sie wohnten seinem Fall mit erstaunlich eisig kalten Blicken bei. Vorahnung, Wissen und Ensetzen spiegelten sich in ihnen wieder. Dumpf prallte er mit dem Rücken auf den Zirkusboden. Etwas knackte an seinem Hinterkopf. Das Geräusch weckte Ekel in ihm. Noch spürte er keinen Schmerz. Nur Entsetzen. Wie oft hatte ihm die Vorstellung an diesen Moment schon den Schlaf geraubt? Wie oft war er schon aus wirren Träumen aufgefahren? Jetzt wurde der Schrecken wahr.

Für einen kleinen Moment stand die Stille im Raum wie Betonblock. Dann die Schreie und das Chaos. Der Zirkusdirektor warf seine Peitsche in hohem Bogen auf den Boden, liess einen laut hallenden Schrei von sich und sprang mit ausfallenden Schritten an die Unfallstelle. Seine Brust bebte auf und ab, während er sich mit herabfallenden Haarsträhnen und wildem Blick über den Akrobaten beugte. Staub wirbelte hoch. Kurz bevor das Bild in seinen Augen verschwamm, erkannte der Akrobat den abgebrühten Blick in diesem Gesicht, dass ihm bisher so vertraut gewesen war. Er kannte jede Pore und er spürte tiefe Verleumdung und Verrat in den letzten Momenten, an denen gleichzeitig sein ganzes Leben vor ihm vorbeitänzelte, wie ein zu schnell abgespulter Stummfilm.

Er spürte Meuchelei. Es war, als ob sein Leib in Schauder buchstäblich erfror. Sein Atem stockte. Es ging alles so schnell. Ein Kopf nach dem anderen streckte sich über ihn und verdunkelte seine Umgebung. Einer nach dem anderem wölbten sie sich über ihn, die Lichter der grellen Scheinwerfer bedeckend, die ihn ein letztes mal noch blendeten, bevor endgültig die Dunkelheit über sein Bewusstsein einbrach.

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Der Kanal

Alle haben es gewusst. Dieses Trapez hat seit Jahren gehalten und funktioniert und die Stabilität der Hängekonstruktionen im Zelt war ihnen allen heilig! Sie wurden regelmässig kontrolliert. Eigentlich täglich! Jeder wusste das genau: wenn ein Unfall passiert, dann ist es kein Unglück. Einer der Akrobaten wurde geopfert. In diesem Falle war er es.

Er zuckte jäh auf aus seinem sekundenbruchteile währenden Tagtraum. Es war ein Alptraum und die Zeit war wie eine dicke Schicht, die zwischen ihm und seinem Bewusstsein stand. All seine Kunden. Er konnte nicht einmal ansatzweise absehen, welche Daten schon in die Hände dieser Aasgeier gefallen waren. Die Angaben von Terrabyte-Zahlen hallten in seinem Kopf wieder. Panik wechselte sich ab mit der Ruhe der verzweifelten Gewissheit vom unumgänglichen Ende.

Das Ende. Es war jetzt zum greifen nahe. „Jetzt nur die Nerven behalten. Nerven behalten, wofür? Alles war nun verloren“! Alles, was er sich aufgebaut hatte in all den Jahren, seit der Krise der New Economy, damals zur Jahrtausendwende. Sein Kopf knickte nach vorne über die Brust. Die Arme hingen an seinem Körper herab wie Tauwerk an einem Frachtschiff im Verladebecken.

„Dementieren, dementieren. Ich werde alles dementieren. Diese dreckigen Schweinehunde. Dieses Hurenpack!“ zischte er und erschrak vor seiner eigenen Stimme, die klang wie von verblutendem Schlachtvieh. „Sie haben mich ausgenommen und abgeliefert! Aber wie kann das sein? Die wissen doch, dass ich auch alles weiss? Also muss das eine grosse, eine sehr grosse Nummer sein! Eine verdammt grosse Nummer. Verdammte Scheisse. Verflucht nochmal!“ Er donnerte mit dem Handballen gegen die Wand. Presste die Stirn gegen sie und spürte, wie sein Leib schwerer wurde und ihm die Tränen kamen: „Sie lassen tatsächlich alle fallen. Alle werden fallen! Das ist unglaublich….“

Die Verzweiflung überkam ihn und er trat an die Glasfront seines Büros, das sich im obersten Stockwerk eines geschwungen und elegant sich in die Höhe windenden Wolkenkratzers befand, weit oben an der Anhöhe mit einem Rundumblick über die Mündung des Kanals, das Delta, das Meer und mit der gleissenden Sonne, die die Glassfassaden der monumentalen Businesstowers smaragdfarben zum glitzern brachte. Er trat hinaus auf die Terrasse, denn er konnte nicht einmal das gedämpfte dunkeltürkise Licht der getönten Scheiben ertragen, dass er sonst so genossen hatte, besonders an den Abenden, an denen er dann mit genüssliche eine edle Havanna rauchend in die Glut der Sonne starrte und ihm sein Tageserfolg durch den Kopf ging.

Er brauchte Licht und vor allem Luft!  Wie schön es doch wehte hier oben? Seitdem er hier eingezogen war, vor knapp 6 Jahren, war er vielleicht ein oder zweimal hier hinausgetreten. Eine Schande! Nun wünschte er sich, er hätte es öfter getan. Diesen Anblick würde er bald…sehr bald sehr vermissen.

Er lockerte die Krawatte, während er an das Geländer trat. Weit unten hörte er das Meeresrauschen, das in das sanfte Summen des Windes überging. Er hörte die Telefone läuten und summen. Wie anders das doch jetzt klang, wie bedrohlich, wie unangenehm? Er war einer der besten seines Fachs gewesen und die alltäglichen Bürogeräusche, die bisher wie eine fein komponierte Untermalung seines Erfolges klangen, hämmerten nun grausam auf ihn ein, schlimmer als dieser entsetzliche Noiserock, den seine Kinder von früh bis spät hörten. Er musste vor ihnen fliehen, weit hinaus auf das Meer würde er jetzt gerne schwimmen. Wenn er nur frei wäre. Frei wie eine dieser Möwen, die ab und an krächzend um das Gebäude schwebten. Er würde bis zum Horizont fliegen und mit den Walen um die Wette eifern. Er war ein Meisterakrobat gewesen. Er hatte an die Konstruktion geglaubt. Er war einst der Garant ihrer Stabilität. Er hatte mit Millarden jongliert und hunderte Konten gleichzeitig für all seine Kunden verwaltet. Er war der Star des Offhore-Geschäfts und steuerte hunderte von Breifkastenfirmenbossen, die am Fliessband Deals unterschrieben. Er wusste genau, was das für Geschäfte waren und er wusste genau, dass es sehr schwer war, die Wege der Transaktionen und die komplexen Zusammenhänge der Geschäftsverhältnisse nachzuvollziehen. Hallo! Er wusste genau, wer ihm dieses Imperium ermöglicht hatte. Eigentlich war es ein bombensicheres Geschäft. Und jetzt sollte er fallen? Wenn er fiel, dann würden viele andere mitfallen und das sind nicht irgendwelche kleinen Banker an der Wallstreet und in London. Es sind grosse Namen. Das nimmt doch keiner in kauf? Es sei denn: irgendwelche Bastarde, denen er es nie und nimmer zugetraut hatte, nahmen sich vor, die Welt neu zu ordnen.

„Diese verdammten schmierigen Schurken! Sie haben mich das System mit aufbauen lassen und mit mir meinen Erfolg gefeiert. Sie haben mich angeheizt, mir Preise verliehen und mich hochdekoriert. Nun ziehen sie mir an einem Tag plötzlich den Boden unter den Füssen weg, oder noch besser gesagt: reissen die Zeltdecke über mir auf“, dachte er. Es war ja klar, dass die Zeiten sich ändern würden, aber warum denn gerade er? Wie hatte er das denn nicht kommen sehen können? Er war doch der beste gewesen!

Aber vielleicht war das ja der Grund? Der beste hatte am meisten vorzuweisen und am meisten zu bieten. So wie es scheint, wollen sie die Konstruktion komplett umkrempeln. Das bedeutet: es gibt eine neue Generation von Hyänen, die zur Übernahme der Beute bereit stehen. Er starrte hinab in die Strassenschlucht, so als ob er sie suchen würde mit seinen Blicken. Als ob er ihnen noch einmal in die Augen blicken wollte. Denen, die ihm nun alles wegnehmen würden. Alles. Sein ein und alles würden sie ihm nun aus der Hand reissen.

Es war klar: Um die Konstruktion komplett umzukrempeln, brauchten sie seinen stabilsten Träger!

„Diese Hundesöhne“, dachte er….“diese undankbaren Hundesöhne“.