„Der Vater allen Übels“ – Gedanken zum Umgang Deutschlands mit seiner gesellschaftlichen Vielfalt

Vor 60 Jahren wurde das Anwerbeabkommen mit der Türei unterzeichnet, in dessen Zuge hunderttausende Menschen mit Arbeitsverträgen in der Tasche nach Deutschland kamen. Die meisten von ihnen kamen am Gleis 11 in München an und wurden von dort weiterverteilt an ihre Arbeitsstätten in ganz Deutschland.

Vielleicht werden sich einige von Euch erinnern: Im Jahr 2018 kam es zu gewaltsamen rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz. Der aktuell noch amtierende Heimat- und Innenminster hatte in der Folge eine lange Zeit geschwiegen. Es war die Zeit, als er noch seinen 69. Geburtstag mit 69 Abschiebungen von asylsuchenden Afghan*innen feierte.

Ich hatte mir von ihm damals sowieso kein besonders relevantes Statement bezüglich dieser Thematik erwartet.

Ich sollte mich leider irren!

Nach einer endlos scheinenden Zeit des Schweigens gab er dann schließlich folgendes Zitat von sich: „Die Migration ist die Mutter allen Übels“.

Ich verspürte für kurze Zeit den Ansatz einer Bestürzung, doch sie wandelte sich umgehend um in eine schwer zu bändigende Wut.

Ich wurde wütend, weil ich die Sinneshaltung, die dieser Satz wiederspiegelt seit sehr langer Zeit sehr genau kenne. Ich weiss, wieviel Ignoranz in ihm steckt,
Einfalt, Unwissen und Bewusstseinsmangel.

Die Opfer-Täter-Umkehrung, die hier stattfand ist nur ein Nebeneffekt.

Diese Sinneshaltung kennt nur die Endresultate kultureller Entwicklungen und feiert sich dafür in der Jetztzeit selber. Sie wird in einem elitären, bürgerlichen Millieu gelebt, dass sich auf die Errungenschaften des Humanismus beruft. Solche Menschen schliessen humanistische Gymnasien ab und wachsen auf mit den Dichter*innen und Denker*innen der Aufklärung, garnieren ihre Bildungserfahrung mit griechischer und römischer Mythologie. Sie Berufen sich auf die klassische Antike, sie Identifizieren sich mit ihr. Daher auch der Begriff der Mutter allen Übels, der ja direkt der griechischen Mythologie entnommen ist: er bezeichnet im Grunde die mythische Gestalt der Pandora, die erste Frau auf Erden, entstanden aus der List der eifersüchtigen Gött*innen, die den Menschen in einer Büchse alle großen Übel und Schlechtigkeiten gebracht haben soll. Das ist ein uraltes toxisches Frauenbild, dessen sich der Innenminister hier bedient. Das nur am Rande bemerkt.

Besagte Sinneshaltung hat Schwierigkeiten damit, die Grundlagen ihrer historischen Identität mit ihrer gegenwärtigen Situation zu verknüpfen. Denn wenn sie dies tun würde, dann würde der Innenminister dieses Landes wissen:

dass es ohne die Migration die Renaissance nie gegeben hätte.
dass es ohne sie die griechische Kolonisation und die Gründungen griechischer Stadtstaaten nie gegeben hätte,
dass es ohne Migration weder die Seidenstrasse, noch die Gewürzstrasse gegeben hätte,
dass es ohne Migration auch keine Handelskultur geben hätte können, auf der bekanntlich die Idee des Wirtschaftsliberalismus fusst.
dass es die Migration war, die unter anderem auch die Musikkultur über den Globus transportiert und somit ihre ständige Weiterentwicklung vorangetrieben hat.
dass es ohne die Migration von deutschen Wirtschaftsmigrant*innen zum Beispiel einen wesentlichen Teil der Neuen Welt, wie wir sie heute kennen, nicht gegeben hätte.
Und das sind nur einige wenige Beispiele. Die Liste lässt sich unendlich lang fortsetzen.
Ein Mensch, der einen bestimmten Bildungsstand aufweist müsste deswegen eigentlich wissen, dass die Migration nicht die Mutter allen Übels, sondern vielmehr der Ursprung jeglicher Kultur auf dieser Welt ist.

Ich könnte mich damit begnügen den Herrn Innenminister und Ähnlichgesinnte auf diese Kette von Wissenslücken hinzuweisen und mich zuversichtlich der gemeinsamen vielfältigen Zukunft in Deutschland zuwenden (die unausweichlich kommen wird!).

…wenn da nicht so schicksalshafte Ortsnamen wären, die mich tagtäglich begleiten: Rostock/Lichtenhagen, Mölln, Solingen, wenn der NSU Komplex und unzählige andere rechtsradikale gewaltvolle Übergriffe auf Menschen mit Migrationshintergrund nicht gewesen wären.

Im Lichte all dieser historischen Realitäten dieses Landes kann ich mich leider nicht mit einer Würdigung der Leistungen all dieser Menschen begnügen, die vor fast 60 Jahren hier am Gleis 11 am Münchner Hauptbahnhof ankamen, ihre Leben hier aufbauten, unglaubliches leisteten unter einem enormen gesellschaftlichen Druck und einer enormen Leistungserwartung, im Schatten täglicher Diskriminierungen und Segregation.

Menschen, die seit Generationen zum grossteil in Schichtarbeit und oft auch in mehreren parallel laufenden Jobs ihre Existenz hart erarbeiten, ihre Steuern zahlen, ihren wirtschaftlichen und kulturellen Betrag leisten in dieser Gesellschaft.

…sich aber gleichzeitig um die Bildung ihrer Kinder sorgen mussten, weil sie jeden Tag ihrer Benachteiligung und Diskriminierung Zeuge wurden, in einer Gesellschaft, die nach 60 Jahren erst Ansatzweise in der Lage ist, damit zu Beginnen, die Potentiale von Menschen mit vielfältigen Sprach-, Lebens- und Gesellschaftserfahrungen zu nutzen, einzusehen, dass diese Menschen seit Jahrzehnten mit Haut, Haaren, Leib und Seele hierher gehören, dass sie die Gesellschaft und auch das Wesen Deutschlands mitgestalten und mitentwickeln.

Nein ich kann mich nicht damit begnügen, dies alles festzustellen und uns allen ins Bewußtsein zu rufen.

Ich muß leider einen Schritt weiter gehen:

Für mich stellten die besagten Worte des Innenministers der Bundesrepublik Deutschland nicht nur einen dreisten Diskriminierungsversuch dar, den ich in gewohnter Manier mit dem Handrücken vom Tisch fegen könnte. Nein! Diese Worte empfand ich als eine Drohung!

Nicht für mich. Plumpe Drohungen machen mir schon lange keine Angst mehr. Ich hatte keine Angst um mich.

Ich hatte Angst um unsere Kinder, unsere Älteren, unsere Familien, unser aller friedliches Zusammenleben. Darum habe ich mich gesorgt. Ich habe ein wesentliches Bedürfnis empfunden, das vielen Menschen in sehr hohen politischen Positionen in diesem Land zu fehlen scheint: Verantwortung für diese Gesellschaft.

Und es machte mich Wütend, denn ich war mir leider dessen Bewusst, dass auf solche Worte Taten folgen würden.

Und es folgten Taten.

Es wurden junge unschuldige Menschen in Hanau aus dem Leben gerissen. Auch in Halle, wo eine Synagoge bei hellichtem Tag unverfroren angefriffen wurde. Ein Politiker in Kassel musste sein Leben lassen.

Dessen allen müssen wir uns Bewusst sein, wenn wir an dem heutigen Tag dem Anwerbeabkommen mit der Türkei gedenken, wenn wir uns über das Phänomen der Arbeitsmigration im Allgemeinen Gedanken machen.

Ich für meine Person schaffe den Sprung von der Opferposition herauf auf Bühnen und vor Mikrophone, bin einigermassen sicht-, -les und hörbar. Abertausende schaffen diesen Sprung nicht. All diesen Menschen will ich hier ein Sprachrohr sein: ihr seid nicht allein! Ihr werdet anerkannt! Ihr seid wichtig und ihr gehört hierher!

Aber die Wut und das Unverständnis alleine hilft nicht. Auch die gutgemeinte politische Geste hilft nicht. Worte helfen auch nicht.

Das einzige was hilft, ist der ehrliche, aufrichtige Wille, sich gegenseitig in erster Linie als Menschen an zu erkennen. Das ist die Grundlage aus der auch ehrliche Solidarität erwachsen kann. Wohlgemerkt: hier geht es nicht um Nächstenliebe! Es geht viel mehr um die Dringlichkeit und den Willen, eine zukunftsfähige Gesellschaft zu formen, in der wir kein einziges Potential verschwenderisch unserem gleichmut opfern und somit vergeuden, denn das können wir uns nicht leisten.

Wir sind Menschen. Wir sind einzigartig! Wir haben vieles erschaffen, aber nochmal soviel bedenkenlos zerstört. Wir tragen Verantwortung für unseren Lebensraum und können diese nicht abgeben. Auch nicht an Gott! Wir Schulden unseren folgenden Generationen einen wunderschönen, lebenswerten Planeten!

Unsere Würde verlangt es uns ab, dass wir uns dessen Bewusst sind – und zwar in jeder Sekunde, die wir Leben.

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