Ich war ja letztens wieder mal in Berlin. Diesmal habe ich mit Elektro Hafiz im Urban Spree ein wunderschönes Konzert gespielt und nebenbei wieder einmal eine Menge Inspiration getankt. Zu Schlingensiefzeiten pilgerte ich dazu oft genug in die Volksbühne. Momentan zieht es mich eher ins Maxim Gorki Theater.
Folgendes Stück habe ich mir bei der Gelegenheit angesehen:
„Love it or leave it“ von Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoğlu im Maxim Gorki Theater
https://www.freitag.de/autoren/antonia-maerzhaeuser/ganz-schoen-am-arsch
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13216:love-it-or-leave-it-am-maxim-gorki-theater-berlin-beschaeftigt-nurkan-erpulat-sich-mit-dem-zustand-der-tuerkei&catid=38:die-nachtkritik-k&Itemid=40
Regie führte Nurkan Erpulat, die Dramaturgie übernahm mein Freund Tunçay Kulaoğlu und den Text schrieb der junge Münchner Theatermacher und ebenfalls sehr gute Freund Emre Akal.
Die Kritiken, von denen ich oben zwei ausgesucht habe, sind durch die Bank schlecht. Das hätte ich mir eigentlich denken können, denn mir hat das Stück sehr gut gefallen. Ich habe auch die komplexen Aussagen, Referenzen, Randnotizen und Themenpunkte verstanden, die in diesem Stück tatsächlich wie in einem Unwetter auf einen herabprasseln. Mir hat es auch sehr gefallen, dass es keine klaren Rollenverteilungen auf die Darsteller gab, dass es Mehrfachbelegungen ein und des/r selben Darstellers/in gab. Besonders gut hat es mir gefallen, dass keine politische Abrechnung im rationalen Sinne stattfand, sondern man schon auch selber suchen mußte nach den Ansatzpunkten und den vielen Hinweisen.
Dieses Stück bedient keine Meinungsfraktionen! Es bedient weder die türkisch-kemalistischen Sozialdemokraten, die linke Aktivistenfront mit ihrer Forderung nach politischer Korrektheit, noch die hiesigen Elitisten, aber am allerwenigsten natürlich die deutsche Mehrheitsgesellschaft und die Erdogankonoformen schon gar nicht. Das Stück erklärt auch nichts. Für diejenigen, die immer eine Anleitung brauchen, gibt es dafür einen Glossar, den man sich vor dem Stück durchlesen kann.
Aber ich will hier gar keine Theaterkritik loswerden. Das haben andere schon gemacht und ich muß mich dagegen nicht aufbäumen. Kann sein, dass das Stück viele ZuschauerInnen nicht so zufriedengestellt hat, wie mich. Das passiert mir ständig und nicht nur in diesem Genre. Ich bin antizyklisch sozialisiert und befinde mich deswegen oft ausserhalb des allgemeinen Konsens‘. Daran bin ich gewöhnt.
Was ich aber als allgemeinen Mehrwert aus diesem Theaterabend mitgenommen habe, ist die erstaunenswerte Tatsache, dass zwar die meisten Zuschauer/Innen etwas zu kritisieren fanden, aber aus sehr, sehr unterschiedlichen Blickwinkeln. Das, was die einen zu verschlüsselt und unverständlich fanden, war für die anderen wiederum viel zu plakativ und fast wie mit dem Vorschlaghammer präsentiert.
Die Figuren, die für die einen völlig klar (fast schon zu klar) umrissen waren, waren den anderen nicht aufgefallen. Jede Fraktion suchte nach ihren spezifischen Anhaltspunkten und forderte nach sehr spezifischer Aufklärung. Die ZschauerInnen kamen nach der Vorstellung auf den Dramaturgen zu und wollten sich unbedingt mit ihm unterhalten, ja sie hatten das dringliche Bedürfnis, sich mit ihrer Kritik direkt an ihn zu wenden. So hüpfte dieser unermüdlich von Tisch zu Tisch und stellte sich beharrlich den Fragen. Dabei musste er zumindest einer Kritikerin antworten: „Eigentlich schreit deine Kritik nach einem eigenen Stück!“. Und diese Emfindung hatte ich auch. Love it or leave it ist meiner Meinung nach der erste Ansatz für eine ganze Reihe von Stücken, es ist ein Bruchteil, der nie den Anspruch der Vollständigkeit erfüllen kann und sollte, denn es ist ein Mosaikstein in einem ganzen künstlerischen Konvolut, dass sich hier auftut. Das erklärt auch die unverständlich wirkende Erzählsprache und die vermeintlich willkürliche Ansammlung von Einzelsträngen.
Dadurch entstanden eine Reihe von sehr angeregten Auseinandersetzungen, die mir sehr viel über die einzelnen Perspektiven und Ansprüche erzählten, die das vielfältige Publikum des Maxim Gorki Theaters bezüglich genau dieses Themas anscheinend besitzt. Und ich denke, dass genau diese sich wiederum in unserer vielfältigen Gesellschaft wiederspiegeln.
Insofern hat dieses Stück meiner Meinung nach zumindest einen Sinn und Zweck vollkommen erfüllt. Das tragische für die Macher ist natürlich die Tatsache, dass man sich mit einer solchen Produktion keine dicken Props holt, denn man erfüllt keinen Einzelanspruch einer Meinungsfraktion. Man bedient nicht, sondern man verweigert sich dem komplett. Man verlangt dem/r ZuschauerIn viel ab, indem man ihn/sie mit seineir/ihrer tagespolitisch motivierten Erklärungsnot alleine lässt. Und genau das ist der Punkt!
Denn dies bedeutet noch lange nicht, dass hier ein unverständliches Chaos vorherrscht – ganz im Gegenteil. Ich empfand dieses Stück als äusserst klar formuliert. Es ist nicht reichhaltig recherchiert, sondern nährt sich aus direkten Lebenserfahrungen und Empfindungen. Die zugrunde liegende Struktur ist einfach nur zu Groß und reicht aus dem Rahmen des Stückes an sich weit hinaus. Auch das wäre – meiner Meinung nach – legitim.
Aber anscheinend kann man es sich in dieser Gesellschaft als migrantisch-stämmiger Theatermacher noch nicht leisten, Bilder zu erzeugen und diese sprechen zu lassen, ohne ständige verbale Wutausbrüche und stringenter Holzhammerdialektik, ohne rücksichstvolle Schlichtheit und doppeltem-dreifachem Definitionsraumübersetzung? Anscheinend wird einem der hohe Anspruch, sich in die distanzierte Position des Künstlers zurückzuziehen und von dort seine komplexe Bildsprache zu entwickeln noch nicht gegönnt?
Nun komme ich jedoch schon wieder in eine Erklärungsposition, die ich dem Mehrheitspublikum einfach nicht mehr gönne. Vom kulturellen Touristenführerdasein habe ich mich ja eigentlich schon lang verabschiedet.
Jetzt wird nix mehr erklärt – stattdessen werdet Ihr zum Diskutieren angeregt. Was wollt ihr mehr? Das ist doch auch viel spannender? Ausserdem: so rege wie die Diskussionen nach diesem Stück waren, kann es ja nicht sooo unbewegend gewesen sein?
Und das bringt mich auch schon zum nächsten, eher lokal münchenspezifischen Thema: Wann werden wir so eine aufgeregte Athmosphäre endlich hier im Stadttheater erleben? Stattdessen müssen wir uns immer noch mit einem Sack Reis begnügen, der gerade in den Kammerspielen umgefallen ist und werden dazu angefeuert uns darüber unsinnlich das Maul zu zerreisen und das nur, um dem Intendanten eine Bühne für seine Shabby Shabby Selbstinszenierung zu bieten.
Langweilig!