„Yo Bitches! Ich habe euch alle gekauft ihr Schlampen. Wenn ich mit dem Finger schnippe, dann tanzt ihr alle auf den Tischen, vor Freude, mir dienen zu dürfen. Heute seid ihr noch hier und morgen? Morgen seid ihr futsch, wenn ihr nicht spurt und das wisst ihr ganz genau. Kommt, gebt es doch zu: das macht euch doch geil, oder? Wer nicht spurt, mit dem mach ich kurzen Prozess. Na, los, sagt mal: Wer ist euer Big Boss? Haha. Genau ich bin’s. Und wer bin ich? Ein Immobilienhai – frisch aufgestiegen, hunderte Renter übers Ohr gehauen und ein Vermögen gemacht. Und weils so gut läuft, mache ich seit neuestem in Versicherungen.
Ja, was willst du machen? Wenn die Leute mal Geld ausgeben wollen, dann sind sie kaum zu halten. Sie wabern durch die Straßen wie Fische im Meer. Man braucht nur im richtigen Moment sein Netz auszuwerfen. Den Schwarmfaktor muß man nutzen. Entweder du weißt, wo der Schwarm sich befindet und wo er hinfließt, oder du schaffst dir einen Schwarm, läßt ihn immer größer und größer werden, indem du ihm gezielt Futter in die Schwimmrichtung wirfst und ihn schön von den Seiten und von hinten zusammentreibst. Genauso wie es Killerwale mit Makrelenschwärmen machen. Und wenn du sie in Panik zusammengepfercht hast, dann öffnest du dein Riesenmaul und schnappst herzhaft zu. So läuft das! Schnippschnapp. Haha. So verdient man das Geld“.
Das ging ihm durch den Kopf, während er mit hochrotem Kopf im Getümmel saß – im Weinzelt mit all den Kimmenleckern und -leckerinnen um ihn herum. Er war der Big Boss und hatte eine Box reserviert in einem der teuersten Schankzelte der gottverfluchten Wiesn. Es war der letzte Wiesnsonntag und er hatte alles, was Rang und Namen um ihn herum hatte eingeladen. Er hatte hart gearbeitet dafür, diese Szenerie genießen zu dürfen. Vor zehn Jahren hatte er sein Business aufgebaut, nachdem er die Schnauze voll hatte, als Kleinvertreter von Tür zu Tür zu rennen und nur mickrige Prozente zu kriegen, die er am Wochenende eh versoff und verkokste. Er wollte nicht nur so tun, sondern endlich wirklich groß werden und er wußte, dass er es drauf hatte, zefix nochamal. Er ließ sich kurzerhand kündigen, holte sich ganz hinterfotzig den Kundenstamm seines Chefs ran und machte ihm Konkurrenz, denn er wußte, dass das legitim ist in diesem System. Sein Chef hatte es ihm damals doch vorgesungen: „Moral gibt es in dieser Gesellschaft schon, Grünschnabel, aber wenn’s ums Geschäft geht, dann regieren die Zahlen, kleiner, die Zaaaahlen!!“, hatte er immer gesagt.
Aber er war schon damals der Big Boss. Er war kein Grünschnabel, wie ihn sein Chef immer nannte. Er war schon immer im Vorteil gewesen: ihm war immer schon alles und jeder scheißegal gewesen. Er kannte keine Skrupel. Das wußte er und jeder, dem er einmal sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Er war schon als kleiner Scheisser der härteste auf dem Schulhof. Er hatte schon alles hinter sich. Die Zeiten mit den Jungs in Milbertshofen. Damals, als sie am Wochenede immer in die Stadt kamen, um in den Clubs abzuhängen. Er wollte immer schon unter den Coolsten sein und er wußte, wie er sich einschleimen mußte. Jede Posse machte er mit, nur um dazuzugehören.
Die Klamotten klauten sie sich in den Markenboutiquen, verkauften sie an die Zuhälter und Kleinganoven. Sie kauften sich in großem Stile Drogen und verkauften sie ganz ungeniert in der Wohnung eines Kumpels. Mit den Taschen voll Geld und vollgedröhnt mit Koks hatten sie auch genug Schneid, um mit den Edelnutten in den Hotellobbies anzubandeln. Immer war er der erste, der sich abseilte, wenn er merkte, es geht eine Stufe höher, oder es wird zu gefährlich. Viele seiner Freunde sind im Knast gelandet, konnten den Drogen nicht widerstehen und wurden selbst zu Süchtlingen – der größte Fehler, den ein Dealer machen kann!
Er fühlte sich damals schon, wie ein König, denn er hatte immer den richtigen Riecher, den richtigen Instinkt. Ein arrogantes Dreckschwein war er immer gewesen, ein arrogantes skrupelloses Arschloch und er fand sich richtig geil so, aber trotzdem hatte es dann doch ziemlich lange gedauert, bis es endlich mal richtig knallte. Im Endeffekt hatte er es immer verstanden, den mutigen Schritt genau zur richtigen Zeit zu tun. Er war die richtigen Allianzen einegangen, hatte mit den richtigen Leuten im Kommunalreferat Geschäfte gemacht. Und jetzt war es soweit: Er hatte es geschafft – ganz offensichtlich, sonst würde er nicht hier sitzen mit ner teuren Eskorte zur Seite – die es durchaus mit der Exbundespräsidentengattin aufnehmen konnte – und einem Haufen Schleimern um sich rum, die ihm die Arschritze sauberleckten.
Sein Blick schweifte nun schon geraume Zeit in die Ferne, so wie es immer passierte, wenn er sich an seine glorreiche Vergangenheit erinnerte. Nun aber landete sein Restbewusstsein wieder zurück in der unmittelbaren Surrealität am Tisch, oder das, was mal ein Tisch gewesen war. Das ganze Zelt brummte. Alle tanzten auf den Tischen und er war kurz mit dem Blick an den strammen Wadeln einer seiner weiblichen Tischgäste hängengeblieben, die beim Rumhampeln fast vom Tisch gefallen wäre. Er war richtig schön hacke und alle um ihn herum hingen an seinen Lippen. All die Geschäftspartner, die Prostituierten, die professionellen und die, die aus blankem Glauben an das Hurentum ihren Arsch verkauften, genauso, wie er es schon immer getan hatte. Deswegen hasste er diesen Typus Mensch und liebte ihn gleichzeitig so sehr. All diese verhurten Arschlöcher um ihn herum. Ja er verspürte eine komische Art von väterlicher Verantwortung für sie. Denn sie waren genauso, wie er. Sie waren aus dem selben Holz geschnitzt, oder besser: aus dem selben glibberigen Schlickerschlamm geformt. Sie waren alle skrupellose Dreckschweine und genau das mochte er an ihnen. Sie waren verlogen, versaut, hinterhältig und jeder grub dem anderen das Grab – und zwar ständig. Solange er die Macht und das Geld in den Händen hielt, konnte er sich jedoch auf Jeden und Jede zu hundert prozent verlassen. Sie waren alle verdammt gut in ihrem Job und gierig wie die Aasgeier.
„Hey du kleiner Schaftschlecker!“, brüllte er den Kellner an. Sie waren sich sofort näher gekommen und der Kellnerboy hatte sich schnell an seinen flachen Humor angepasst. Dafür erhielt er schließlich gutes Trinkgeld. Lachend kam er angesprungen, wie ein junges Kangoroo. Er war ein hübscher Knabe, gut gebaut, mit ’nem knackigen Arsch in der Lederhose und dunklen Falkohaaren, die ihm in fettigen Fransen über die Stirn fielen. Schon von weitem fiel er auf mit seinem charmanten, verschmitzten Grinsen, das eine gewisse schmierige Routine im Umgang mit den Gästen erahnen ließ. Aber auch die tage- und nächtelange Arbeit und die Drogenorgien nach den langen Schichten standen ihm ins fahle Gesicht und in die geröteten Augen geschrieben. Das Leben nahm er offensichtlich mit Humor und wusste, wie man sich seinen Gästen anpasste, um ihnen das Trinkgeld aus der Tasche zu leiern.
„Jahaaa, komm ja schooon“ flötete er in nachgeahmter Thekenschlampenmanier und verführte den ganzen Tisch damit zu einem kleinen Lacher. Big Boss freute sich schon auf die nächste Szene, wie ein Kleinkind auf seine erste Eisenbahn. Jetzt war wieder die Zeit zum Klotzen gekommen. Jetzt mußte er seinen Boss-Status hier in diesem Weinzelt wieder ein für alle mal zementieren. Der Zeitpunkt war gekommen – jetzt ging es um die Dominanz auf dem Platz. Er legte sein arrogantestes Geschau auf, packte den Kellnerboy paternalistisch am Kragen, zog ihn zu sich und spuckte ihm seine finale Bestellung in astreinem bayrisch ins Ohr: „Pass amoi auf du Zipfeklatscha: An Champagner kriang ma owa da muaßt scho schaun, das da Diisch ned zammakracht, ge?“. Damit hatte der Sonnenjunge in Lederhosen nicht gerechnet. Die ganze Box jauchzte und tobte. Sie waren alle schon übelst besoffen und gerieten in Extase, ob der dicken grandiosen Bestellung. Die Laune war am kochen. Was für ein krönender Abschluss!
Kellnerboy war nun schon leicht aus der Fassung gebracht. Big Boss hatte bei ihm sage und schreibe 10 Neun-Liter-Flaschen Schampus bestellt. Eine à 3500 Euro, bedeuteten nach Adam fucking Riese 35000 Euro. Bei 9 Prozent Umsatzanteil bedeutete das im Falle dieser Bestellung: 3888 Euro, die er bald tief in die Tasche schieben konnte. Er flog förmlich zur Schenke. Bisher – toi toi toi – hatte er schon richtig guten Umsatz gemacht, aber mit dieser Bestellung würde er heute die 80.000 Euro Marke sprengen. Alles dank diesem selbstsüchtigen Vollidioten, der schon den ganzen Tag seine dekadente Bagage vollfütterte und abfüllte. Die waren eh schon alle total durch. „Soviel Schampus kriegen die doch gar nicht runter!“, ging es ihm kurz durch den Kopf, aber im Grunde war es ihm mal so richtig scheißegal. Als er nun prustend mit dem Schampus zurückkam, lag die Hälfte des Tisches schon fast im Koma, aber sie hatten noch genug Restenergie, um sich den Champagner halb in den Rachen, halb daneben zu schütten und dabei die Augen zu verdrehen. Es war ein übler Anblick.
Big Boss war sehr zufrieden mit sich. Die Begleitdame neben ihm flötete ihm ununterbrochen belangloses Gesülze ins Ohr. Er drehte sich zu ihr hin und hatte sogleich ihren geschwungenen Silikonmund genau vor dem Gesicht. Ihre albernen blonden Pornozöpfe wackelten über dem prall gefüllten Decoltee, das von einem knallgelben Karnevalsdirndl umrahmt wurde – so eins, wie es sich meist die ahnungslosen Neuseeländerinnen für teures Geld am Hauptbahnhof andrehen lassen. „Aaaach ist das herrlich, dachte er sich“ und wollte sie nochmal darum bitten, auf dem kleinen Spiegelchen, das in ihrer Handtasche eingearbeitet war, flink und geschickt eine Line Koks zurechtzulegen. Das war ihre Spezialität und der eigentliche Grund, warum er sie immer buchte! Eine Koksline-legemaschine mit Pornozöpfen, Arsch, Titten und Silikonmund.
Als er sich zu ihr hinbeugte und den Mund aufmachte, wurde ihm aber plötzlich mordsschwindlig. Anscheinend hatte er doch zuviel des Guten erwischt. Dabei war er doch immer so Exzess-gehärtet! Er rutschte mit seinem Gesicht an ihrem geschwollenen Mund entlang, der zu einem Riesenballon mutierte. Parfum-, Schweiss-, Alkohol und Essensgeruch vermengten sich zu einem unerträglichen Gestank, der ihm übel in die Nase stieg und nun drückte auch noch seine Blase und er mußte unbedingt pinkeln.
Hartgesotten wie er nunmal war, stieß er sich mit einem Ruck aus dem Delirium in die Höhe. Mit müh und not fing er sein Geichgewicht und wankte stolpernd zum Ausgang der Box. Der Kellnerboy, seine Begleitdame und einige seiner Tischgäste wollten ihm helfen, aber er wies sie alle mit einer sehr bestimmten, fast schon aggressiven Geste ab. Auch in diesem Zustand verstand er es noch meisterhaft, die Arroganz und Verachtung zu zelebrieren, die ihn sein Leben lang schon begleitet hatte.
Er wollte jetzt alleine sein. Ganz alleine. So wie er es sein ganzes Leben schon immer gewesen war. Er hatte alles alleine gemacht, alles alleine geschafft und das Pinkeln würde ihm schon allemal gelingen. Noch hielt er sich wacker auf den Beinen, aber der Boden unter seinen Füßen fühlte sich an wie ein Wasserbett. All diese Fratzen, diese Gesichter, die sich ihm im Vorbeigehen offenbarten, wie offene Bücher. Unter ihnen auch einige, die er wohl schon einige male gesehen hatte. Wer sollte das schon wissen? Wieviele von ihnen hatte er schon ausgenommen und beschissen mit seinem Konzern? Sie waren wie Fische für ihn, potenzielle Opfer!
Es dröhnte in seinem Kopf. Er schloss kurz die Augen und die Gesichter, die sich soeben in sein Gedächtnis eingefressen hatten wiederholten sich vor seinem inneren Auge. Sie schienen sich in sein Bewusstsein zu bohren. Endlich lief er aus dem Zelt in die wohltuende Nacht und mitten in das Getümmel hinaus – Schreie, Gelächter, herumirrende Gestalten, die wie dunkle Schatten um ihn herumzuschleichen schienen. Er suchte nach einer Pissecke, genauso, wie es alle anderen taten, so wie sie es hier alle seit Jahrhunderten schon immer tun. Wie Tiere standen sie aneinandergereiht und pissten an die Drahtzäune. Und ganauso tat er es dann auch. Er pisste ewig lange, hörte dem plätschern auf dem kalten Asphalt zu und mußte plötzlich lauthals lachen, als er merkte, wie er sich aus versehen auf die Hand gepinkelt hatte. Nach verrichteter Dinge packte er seinen Schwanz ein, knöpfte seine Lederhose wieder zu, wischte sich seine Hand an der Hose ab und torkelte weiter in die Nacht.
Wie lange war er schon nicht mehr so alleine gewesen? Zeit seines Lebens hatte er sich vor der Einsamkeit geflüchtet, doch jetzt merkte er mit einem sonderbar wohltuenden Gefühl, dass sie seine wahre Heimat war. Er sah in den Himmel hinauf und merkte, wie sehr er sich allmählich vom hier und jetzt entfernte. Big Boss ging unter im größten Volksfest der Welt. Ein Essensstand am Wegrand fiel ihm auf und lockte ihn: Fleischpflanzerl mit gerösteten Zwiebeln in der Semmel. Bei dem Anblick merkte er erst, wie hungrig er eigentlich war. Die beiden Verkäuferinnen standen hiner dem dampfenden Grill und hatten etwas von mystischen Priesterinnen mit ihren Schürzen, wie Dämoninnen in einem 3D-Spiel bauten sie sich vor ihm auf, unnatürlich verzerrt vor seinem Auge. Er sah sie aus Froschperspektive. Sie übten ihren harten Job aus und standen wohl schon seit Stunden in diesem Dampf. Die Müdigkeit war ihnen ins Gesicht geschrieben und die träge ausgeführten Routinehandgriffe verliehen ihnen eine fast weihevolle Würde. Er war für sie ein x-beliebiger besoffener Wiesnbesucher, der sich an diesem Stand wiederfand mitten in der Nacht. Er – der allmächtige Big Boss war nun selber wie ein Fisch, hilflos in einem Netz zappelnd. In diesem Moment verlor er nun seine Haltung, sein Bewusstsein, seine Stellung. Er wurde wieder zum Kind, zu einem hilflosen Wesen. Mit zitternder Stimme bestellte er eine Semmel.
Dunkelbraun triefend liess die Verkäuferin die durchgeschmorten Zwiebeln mit einer Schmorzange in die Semmel zum Fleischpflanzerl rutschen. Wie eine Opfergabe in einem mystischen Initiaionsritus empfing Big Boss nun die Semmel. Fleischpflanzerl mit geschmorten Zwiebeln waren als Kind immer seine Leibspeise gewesen. Wie lange war das jetzt schon her? Fast andächtig biss er mit halbgeschlossenen Augen in die Semmel und musste plötzlich jäh aufzucken: Es schmeckte grauenvoll. Diese Semmel hatte nichts mit den Fleischpflanzerlsemmeln aus seiner Kindheit zu tun. Gottverflucht. Nun packte ihn das pure Entsetzen. Die Zwiebeln sahen aus wie Würmer. Diese Semmel roch nach rohem toten faulen Fleisch. Ihm kam das Kotzen. Big Boss hatte die Kontrolle über sich verloren. Er mußte an Tierkadaver denken, an große Rinderaugen, die aus ihren Höhlen rutschen. Er ging einige Schritte, sah sich hilflos um, sah auf die Semmel in seiner Hand und fühlte sich plötzlich sehr sehr einsam. Er fiel fast während dem Gehen in sich zusammen, fing sich in letzter Sekunde, setzte sich auf einen Bordstein, atmete schwer, legte die Semmel verstört neben sich und merkte, wie ihm der Magensaft hochkam, während er allmählich das Bewusstsein verlor.
Veröffentlicht im Gaudiblatt Nr. 20: Konsumausgabe (November 2014), www.gaudiblatt.de