Krieg ist, wenn du mit dem SUV während der Rush Hour durchs Glockenbachviertel in München fährst und dich über die Fahrradfahrer beschwerst, die dir entgegenkommen, während du hinter dem Lieferanten warten mußt, bis er ausgeladen hat und während dessen fängt die Blechlawine hinter dir mit dem Hupkonzert an.
Krieg ist, wenn du am Arbeitsplatz seit über einem Jahrzehnt neben jemandem sitzt, den du nur oberflächlich kennst.
Krieg ist, wenn du im Alter von über 90 Jahren deine Immobilienbesitze verwaltest, keine Familie hast und mit deinen zwei großen Tresoren in einem kleinen Zimmer lebst.
Krieg ist, wenn du nach einem deutschen Länderspiel zusammen mit deiner schwarz-rot-gold angemalten Freundin in deinem khakifarbenen Jeep eine Runde in der Stadt drehst und sie einfach nur starr auf dem Beifahrersitz aufrecht dasteht mit Deutschlandfahne in der Hand ohne Musik, ohne Freudenrufe, ohne Kommentar.
Krieg ist, wenn ein Artikel in der Boulevardzeitung erscheint, in welchem Eltern die Symptome erläutert werden, an denen sie erkennen können, ob ihr Kind eine Neigung dazu haben könnte, ein Sprayer zu werden.
Krieg ist, wenn du in die falsche Richtung auf dem Fahhradweg fährst, ein Auto rückwärts aus der Einfahrt fahrend, dich anfährt, du auf den Boden stürzt, eine Schürfwunde an deinem Bein klafft und der Fahrer noch mit dem Handy telefonierend dich darauf hinweist, dass du selber schuld bist, wenn du dich nicht an Verkehrsregeln hälst.
Krieg ist, wenn du einen Förderantrag stellen willst und zu erahnen versuchst, was die Keywörter sein könnten, auf die die Entscheider positiv reagieren könnten.
Krieg ist, wenn du als Geflüchteter nach nicht enden scheinenden Strapazen, Todesgefahren trotzend in ein wohlhabendes europäisches Land wie Deutschland kommst und die Einwohner des Viertels, in dem du untergebracht bist völlig aggressiv und aufgebracht dich anschreien und du auf Nachfrage erfährst, dass sie die Polizisten, die zwischen euch stehen anflehen, sie vor dir zu schützen, weil sie felsenfest davon überzeugt sind, daß du ein potentieller gemeingefährlicher Verbrecher bist.
Krieg ist, wenn du als guter Sozialdemokrat Sarrazin bei einer Buchvorstellung im Literaturhaus zujubelst und Kritiker niederbrüllst und sie der Misachtung des Rechtes der freien Meinungsäusserung beschuldigst.
Krieg ist, wenn du als guter Sozialdemokrat bei einer Benefizveranstaltung Geld für die Unterstützung von Edward Snowden sammelst und gleichzeitig während einer spontanen Diskussion am Rande der Veranstaltung die These vertrittst, dass man selber Schuld ist, wenn man das Internet nutzt und persönliche Daten und informationen von staatlichen Organisationen ausgelesen werden.
Krieg ist, wenn du dein Konto immer noch bei einer Bank hast, die der Cash Group angehört.
Krieg ist, wenn du dir immer noch nicht im klaren bist, daß dieses Geld auf deinem Konto nicht an Materie indiziert ist, sondern nur aus digitalen Nullen und Einsen besteht.
Krieg ist, wenn du einem Job nachgehst, der dir viel Geld, aber keine Erfüllung und noch dazu schlechtes Gewissen einbringt, du es aber so argumentierst, daß, wenn du es nicht machen würdest, es ja jemand anders eh machen würde.
Krieg ist, wenn du dieses Thema jetzt beendest, weil das Ende des Artikels erreicht ist und nicht, weil dir nichts mehr dazu einfallen würde.
(Veröffentlicht im Gaudiblatt Nr. 19, Juli 2014, München: http://www.gaudiblatt.de/cms/alle-gaudiblaetter/19-krieg/)
Anfügung:
Dieser Artikel wurde noch vor dem Ausbruch des jüngsten Gaza-Krieges im Juli 2014 verfasst. Es geht in ihm auch nicht um den Krieg als gewalttätigen, bewaffneten Konflikt zwischen Nationalstaaten oder bewaffneten Gruppen, sondern um die tägliche Spiegelung einer kriegerischen Gesinnung im postmodernen neoliberalen Alltag in einer europäischen Metropolregion wie München.