Interessant ist ja auch die Tatsache, dass neben den Persönlichkeiten aus Kunst- und Kultur, auch die Anhänger der großen Fussballmannschaften Istanbuls eine grosse Rolle bei den Gezipark-Protesten spielten. Nicht nur bei der Mobilisierung der Massen, waren sie von Relevanz, sondern auch bei der Entwicklung von effektiven Strategien und Abwehrmechanismen gegen den Polizeiterror. Als ich dieses Video sah, in welchem die besonders hervorzuhebende Carsi-Gruppe, der Anhänger von Besiktas Istanbul (http://en.wikipedia.org/wiki/%C3%87ar%C5%9F%C4%B1_%28supporter_group%29) – quasi in ihrem eigenen Viertel – ein Straßenbaugerät kaperten, und damit auf gepanzerte Wasserwerferfahrzeuge der Polizei losgingen, wurde mir schnell klar, dass nur diese Menschen in der Lage sind, der plumpen Grausamkeit der türkischen Polizei Kontra zu bieten (http://www.youtube.com/watch?v=P_anC8_s_08).
Denn wenn türkische Fussballfans etwas können, dann ist es das öffentlichkeitswirksame Auftreten. Sie verkörpern auch eine gewisse Volksautorität, denn Fussball hat in diesem Land einen besonders hohen Stellenwert. Fast jeder Türke und jede Türkin ist in irgendeiner Form AnhängerIn einer Fussballmannschaft. Dort wo das Individuum sehr wenig Platz zur Entfaltung in der Gesellschaft findet, erfüllte Fussball schon immer als soziales Phänomen, als Katalysator, als Spielplatz und Austragungsort von kollektiven Aggressionen und Expressionsbedürfnissen eine wichtige Funktion. Dies wurde verstärkt durch die Tatsache, dass man ja sonst als junges heranwachsendes Mitglied der Gesellschaft sich nur sehr begrenzt äussern kann. Überall lauern Schnauzbärtige grosse Brüder und Onkel, Väter und besserwissende Mütter und Tanten, die auf ihre traditionsgegebene Autorität pochen und die Jugendlichen allzuschnell in die Schranken weisen. Vom allgegenwärtigen misstrauischen Staatsapparat ganz zu schweigen.
Also suchte sich die junge türkische Gesellschaft einen anderen Schauplatz für ihre überbordenden Energien: Das Fussballstadion. Dort durfte man ungehindert Fluchen, lauthals schreien und seinen Unmut verkünden, die gegnerischen Fans auf den Arm nehmen, provozieren und sich verbal bekriegen. Türkische Fussballfans sind gewieft in Demoralisierungstaktiken, die sie Blitzschnell entwickeln und mittels eigens verfasster Spontanreime via Fanchöre von sich geben. Die Strasse ist ihr zweites Zuhause. Sie kennen sich aus in der Stadt und haben über die Jahrzehnte die Logistik im Chaos dieser Millionenstadt perfektioniert.
Von wegen Brot und Spiele als übersättigendes Mittel gegen eine selbständig denkende Gesellschaft: In diesem Falle bot der Fussball ein schwer unterschätztes und deswegen über Jahrzehnte relativ gering kontrolliertes Trainigsareal für zivilen Ungehorsam.