Januar – Die Nacht in Istanbul ist feuchtkalt. Richtig eklig. Der zentraleuropäische Orientromantiker stellt sich das ja ganz anders vor, vom Klima her. Dem ist aber nicht so. Der Winter hier kann richtig unangenehm werden. Die typisch Istanbuler Nostalgiestimmung passt wunderbar zum Feuchtigkeistnebel und der Dunkelheit – das gibt dann diese ganz spezielle Mischung, die mich immer so fasziniert. Ich laufe auf der Istiklal Strasse im Stadtkern umher – hier gibt es immer absurde Szenen zu bewundern. So zum Beispiel diesen Typen mit Supermankostüm und grüngefärbten Haaren und Gesicht. Eine Mischung zwischen Hulk Hogen und Superman. Nur, dass auf seiner Brust der Schriftzug SUPER FAKIR prangt. Das Wort Fakir kann im türkischen aber sowohl den indischen Fakir bezeichnen, den man auch im deutschen so kennt, ebenso aber auuch das Adjektiv „arm“ bedeuten. Also entweder ist der Typ einer der vielen Werbeträger für irgendein – für mich unbekanntes – Produkt, oder er ist politischer Aktivist.
Grund zum Aktivismus gäbe es hier ja reichlich.
Wir gehen stattdessen erstmal gut essen und Rakitrinken. Und zwar in ein empfohlenes Fleischrestaurant namens Pala am Rande des Ausgehviertels Beyoglu. Treffe mich mit guten Freunden. Sie erzählen mir von den großen Bauvorhaben am Taximplatz und dass die Regierung dort eine weitere repräsentative Moschee bauen will und natürlich ein Einkaufszentrum. Der ganze Platz soll eine Fußgängerzone werden, was wohl eine der wenigen positiven Aspekte des ganzen Bauvorhabens ist. Momentan wird die Innenstadt von weiträumigen Absperrungen und Baustellenabgrenzungen dominiert und viele Menschen sind sichtlich genervt von dem ganzen.
Einer meiner Freunde erzählt mir eine Anekdote: Der Taksim Gezi Park, der im Zuge dieser Umbaumassnahmen total überbaut werden soll, war früher einmal ein armenischer Friedhof. Bis zum Ende des 19. Jhd’s war dieses Gebiet kaum attraktiv, weil es sich ausserhalb der damaligen Stadt befand. Die osmanische Stadtverwaltung hatte die armenische Gemeinde dazu überredet ihre Ansprüche an dem Grundstück zugunsten eines Kasernenbaus aufzugeben. Nun nach etlichen Jahren, nachdem das Kasernengebäude abgerissen wurde und das Areal jahrelang als öffentlicher Park diente, ist es dort stockdunkel, die Strassenbeleuchtungen sind von der elektrischen Versorgung abgeschnitten, in der Nacht laufen schnüffelnde Strassenjungen und obdachlose Kleinkriminelle herum und betteln die Passanten an, denn für diejenigen, die in der Gegend ums Șişli-Viertel im Norden leben, ist der Weg durch den Park der einzig mögliche, um in die Innenstadt zu gelangen. Deswegen sind wohl auch Sondereinheiten der Polizei mit Maschinengewehren dort stationiert, um die Sicherheit zu wahren.
Ein Freund von uns – Antonio Cosentino (armenisch-italienischstämmiger Künstler aus Istanbul) ist vernarrt in den Park. Er lädt seine Freunde seit Jahren in den wärmeren Monaten regelmässig ein, dort zu Picknicken und im Gras dem müßiggang zu frönen. Dabei ermuntert er sie alle mit der Aufforderung: „Kommt freunde, das hier ist unser Land – hier liegen meine Vorfahren seit Jahren herum. Macht es euch auch gemütlich, bitteschön“.
Na ja – irgendwann um 3 Uhr morgens wandern wir dann unseren Routineweg vom Peyote (meinem Lieblingsclub) zum Sammeltaxistand am Taximplatz, denn ich muss noch auf die anatolische Seite nacht Bostancı, wo meine Familie eine kleine Wohnung hat. Die Fahrt dauert im normalfall tagsüber midenstens eine Stunde, meistens aber immer länger, wegen Staus etc. Nun in der Nacht, dauert es keine 15 Minuten, diese gigantische Stadt einmal zu durchqueren – über den Bosporus in Lichtgeschwindigkeit – durch die feuchtkalte Istanbuler Nacht. Das Großstadtleuchten um uns herum, die geräumige Urbanität, die Allgegenwärtigkeit ihrer turbulenten Geschichte schließlich und endlich das Gefühl, wahrlich zu existieren, in einer wahrhaftigen, lebendigen Stadt überwältigt uns. Der Raki auch. Kurz bevor wir einschlafen, sind wir in Bostanci angekommen.