Wolfgang Thierse, bei dir läuft?

Wolfgang Thierse und seine „normalen“ Freunde.

In regelmäßigen Abständen kocht die Identitätsdebatte auf und dann wird wieder heftig diskutiert: über kriminelle Clans, Kopftücher, Gleichberechtigungsansprüche von Frauen, Minderheiten und gesellschaftlichen Gruppen, über Klo’s für das dritte Geschlecht, Feminismus, aber auch über Sprache: über genderspezifische Richtlinien, über diskriminierende Alltagssprache, Saucennamen etc..

Vor allem für konservative Sozialdemokrat*innen ist es eine anstrengende Zeit. Das Sternchen hier habe ich extra für diejenigen in der besagten politischen Gruppierung gesetzt, die das richtig ärgerlich finden. Sie verlieren an Boden und an Legitimation. Es wurde auch endlich Zeit, denn die Entwicklung bahnt sich schon seit Jahrzehnten an. Im Grunde stank es schon von Anfang an zum Himmel und die Geschichte hat recht behalten: die Sozialdemokratie ist mitlerweile im Hafen der identitären Wirtschaftsliberalität angelangt, den sie am Beginn ihrer Reise vor über einem Jahrhundert angepeilt hatte. Und wie nicht anders zu erwarten, hat sie unterwegs das einst so prächtige Enteckungsschiff beim politischen Glücksspiel verzockt. Jetzt haben sie kein Schiff mehr, mit dem sie nach neuen Ufern aufbrechen können, sitzen besoffen in der Hafenkneipe und schwadronieren altersmüde herum, während andere mit einer frischen Flotte fahrt aufnehmen.

Als Paradebeispiel eines solchen Verlierers sehe ich Wolfgang Thierse, der sich jetzt kurz vor der wohlverdienten Genossenhimmelfahrt noch ein Denkmal setzen will, in dem er gönnerisch das Land auf gemeinsame identitäre Werte einschwört und verstohlen die Arschbacken vor den Herausforderungen der Zeit zusammenkneift, indem er ein Recht auf eine toxische Mehrheitsnormalität fordert und sich besorgt über Forderungen aus benachteiligten Gesellschaftsgruppen äußert, die Augenhöhe in der Anwendung der deutschen Sprache fordern.
Ich erwarte von keinem gestandenen Genossen oder Genossin, dass er/sie todesmutig das Heft in die Hand nimmt und revolutionäre gesellschaftliche Veränderungen einfordert, das unbewährte Alte mal beiseite legt und Neues wagt, ohne ein kleinkariertes, krächzendes, halblautes „aber“ hinzuzufügen und sich wieder genau so eloquent aus der Verantwortung herauszureden, wie er oder sie hineingerutscht ist. Aber ich könnte mir schon erwarten, dass Wolfgang Thierse, als ein Vertreter des etablierten weißen Männerstandes, einfach mal still ist. Genau. Ich weiß, wir leben in einer Demokratie und er fordert offensiv und mutig das Existenzrecht der Mehrheitsgesellschaft – was einen durchaus originell bis realsatirischen Ansatz beinhaltet-, aber es zählen in einer sachlichen Auseinandersetzung die dringlichen und substantiellen Argumente – besonders in einer Demokratie. Auch wenn er einen privilegierten Pimmel hat, Bundestags- und Bundespräsident war, sollte er wissen, dass man in Dingen, die die eigene Kompetenz übersteigen durchaus mal nichts sagen und damit weit mehr für die Demokratie tun kann, als ständig irgendeinen Furz rauszulassen, nur weil man Angst vor dem Tod und dem vergessen werden hat.

Für alle Wolfgang Thierses dieser Welt gibt es eh genug Grund zur Sorge: Die Frau ist im Vormarsch und so ist es auch die Genderthematik, die globale Gleichberechtigung, Kapitalismuskritik, Kritik an Identitätspolitik, Dekolonialisierung, Klimadebatte und alle anderen Makro- und Mikrothemen, die mit alledem verbunden sind. Das wird sich sehr wohl auch in der Entwicklung der Sprache deutlich bemerkbar machen und zwar so, wie das schon immer gewesen ist. Solle er sich mal die Entwicklung der deutschen Sprache im letzten Jahrhundert mal vor Augen halten, der gute Wolfgang, dann wird er das mit Sicherheit auch selber zu bestätigen wissen.
Sprache ist nie statisch und wird immer neu ausgehandelt. Genau das passiert jetzt: wir werden knallhart debattieren und uns auch über Details und Lapalien streiten – genau so, wie seine Generation es Jahrzehnte lang getan hat und wir gelangweilt zusehen mussten. Daran ist die Welt nicht zugrunde gegangen und das wird sie auch jetzt nicht tun.
Wichtig ist nur, was unter dem Strich rauskommt und die Debatten der Gegenwart auch als relevante Debatten anerkannt werden.
Wenn Wolfgang keine Zuversicht besitzt, dass die Debatte ein Ergebnis bringen wird, dann liegt das eventuell an seiner Politikverdrossenheit und daran, dass er als ein Vertreter der weißen Mehrheitskultur einfach keine Expertise in bestimmten Themenbereichen besitzt und nie zu besitzen in der Lage sein wird. Er sollte sich sich damit abfinden. Dafür kann er nix, ich weiß – aber wir noch viel weniger! Mit großer Wahrscheinlichkeit liegt sein Problem aber auch darin, dass er den Debatten der Gegenwart nicht mehr gewachsen ist. Aber dann sollte er es einfach sein lassen. Alles beim Alten zu lassen, war noch nie eine realpolitische Option in der Weltgeschichte.
Wenn er zu müde ist für eine neue Denkprotuberanz, dann soll er sich doch in die Hängematte legen und seinen Lebensabend mit der Familie in seinem patriarchalen Idyll genießen, solange es das noch gibt.

Sorry…

P.S.: hier ein von einem Alman eloquent verfasster Artikel zu diesem Thema, für alle, die meine Auslassungen zu wütend und unangebracht finden könnten:
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/die-identitaetspolitik-des-wolfgang-thierse-normalitaet-ist-die-cancel-culture-des-alten-weissen-mannes/26996920.html

Hier der besagte Gastbeitrag in der FAZ:
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wolfgang-thierse-wie-viel-identitaet-vertraegt-die-gesellschaft-17209407.html

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