Abanibi – א-ב-ני-בי

1978 war ich noch frische 10 Jahre jung und lebte in einem damals neu gebauten brutalistischen Betonwohnhauskomplex in München/Milbertshofen, genau gegenüber vom riesigen BMW-Firmenareal an der Riesenfeldstrasse. Dort arbeiteten alle unsere Eltern, die in Dienstschichten eingeteilt von früh bis spät zwischen Betonwohnsiedlung und BMW-Gelände hin- und herpendelten. Sie gingen meist, wenn wir noch schliefen und wenn sie matt und fahl heimkamen rochen sie nach Schweiß und Motorenöl.
Wir waren die Kinder dieser Arbeitssklaven und waren meist in den Kulturen der Heimaten unserer Eltern sozialisiert. Allesamt waren wir vorwiegend Arbeiterklassekids aus Deutschland, Griechenland, Jugoslawien und der Türkei. Lediglich eine Familie mit französisch-haitianischen Wurzeln tanzte aus der Reihe. Die Reagan-Ära stand vor der Tür und ich ahnte noch nichts von all den Pop-Phänomenen, die bald über mich einbrechen würden: Michael Jackson, Hip Hop, Breakdance, Eisi Gulp, etc..
Wir waren begeisterte Elvis-, Boney M.- und Abbafans. Die Beatles waren auch allgegenwärtig. Ansonsten hörten wir die populäre Musik, die uns die Kasetten-, Platten- und Radiobeschallungen aus den Hifi-Kombigeräten unserer Eltern boten. Ich bin mit dem Sound aufgewachsen, den man jetzt mit dem hippen Namen „Anatolian Psychodelic Funk“ tituliert.
Den gabs damals natürlich noch nicht. Für uns war das populäre Volksmusik und rangierte immer schon abseits von Elvis und Abba. Es war eine andere Welt, eine andere Liga, die in unserer Wahrnehmung nichts mit dem Pop des Westens zu tun hatte. Aber uns war damals schon klar: Je mehr die Musik aus den Kassettenrecordern unserer Eltern stilistisch der von Elvis und Abba ähnelte, desto „besser“ war sie. Wir wollten alle auch Mitglieder einer „modernen“ Gesellschaft sein. Vorbild war natürlich die, in der wir lebten. Sie wurde nie in Frage gestellt. Sie war die Norm, auf deren Niveau auch „unsere Heimatkultur“ irgendwann kommen musste.
So waren wir als Vertreter*innen der migrantischen Kulturen im ständigen Wettstreit miteinander begriffen. Griech*innen und Türk*innen vor allem mussten sich gegenseitig ständig etwas beweisen. Die Eltern am Arbeitsplatz, wir Kinder unten im Hof.
Dieser Wettstreit kulminierte alljährlich im Eurovision Song Contest, auf den wir alle geeicht waren. Wer gab wem wieviele Punkte? Wie präsentierte sich das eigene Heimatland? Aus jetziger Perspektive ist es sehr interessant für mich zu sehen, wie wichtig uns dieses gesellschaftliche Ereignis damals war.
Im besagten Jahr 1978 wurde die Türkei wieder einmal fast Letzter und die Griechen rangierten wieder über dem 10. Platz. Diese Form der Enttäuschung waren wir türkischen Kinder schon gewohnt und zankten uns Wacker mit unseren griechischen Nachbarn*innen, mit denen wir uns gegenseitig aufzogen.
Was uns aber tatsächlich über diesen Misserfolg hinweg zu trösten vermochte, war die Tatsache, das wir alle völlig begeistert waren vom Sieger-Song: „Abanibi“ von „Izhar Cohen & Alpha Beta“ aus Israel. Der Song war funky, klang fast wie Boney M. und der Chorus hatte eine unglaublich einprägsame Melodie. Wir hatten keine Ahnung worüber da gesungen wurde, aber es wurde zum Ohrwurm der nächsten Jahre. Bis zum heutigen Tag hatte und habe ich ihn immer wieder im Kopf und tatsächlich habe ich mich auch nicht selten gefragt, was die Lyrics wohl bedeuten würden? Wir sangen immer – dem Wortklang folgend: „Abanibi abanebe, abanibi abanebe obataba“, was natürlich nicht stimmte, aber wen juckte das schon?

Den letzten Eurovision Song Contest 2018 hat tatsächlich nach 40 Jahren wieder eine israelitische Künstlerin, nämlich „Netta Barzilai“ mit dem Song „Toy“ gewonnen. Meiner Meinung nach hat sich Netta zwar mit der „me too Debatte“ einen politisch sehr wichtigen Inhalt ausgesucht, der Song kann aber von der Groovequalität und vom Kultcharakter her, dem Hit von 1978 kaum das Wasser reichen.
Genau darüber unterhielten wir uns in einer Runde von Freundinnen und Freunden letztens. Unter uns befand sich auch ein junger Tänzer aus Israel und mir viel mein Lieblingseurovisionsgewinner von damals wieder ein. Ich dachte mir, ich nutze die Gelegenheit und frage mal nach der Bedeutung des Textes.
Mein israelischer Freund sagte mir, dass der Titel „Ich liebe dich“ – also auf Hebräisch “ Ani obew ochta“ bedeuten würde, aber der ungewöhnliche Duktus daraus resultiere, dass eine unter Kindern im ganzen nahen Osten sehr beliebte sprachliche Umformung angewandt würde. Ich kannte das noch aus meiner Kindheit: es handelt sich um die sogenannte „Bi-Sprache“ und sie funktioniert folgendermaßen: Nach jeder Silbe wird eine in der Vokalharmonie angepasste Zusatzsilbe eingefügt. Das ist ein unter Kindern sehr beliebtes Wortspiel und kann auch dazu dienen, die eigenen Pläne in Gegenwart der Erwachsenen kryptisch zu kodieren. So war also der Titel meines Lieblingsliedes aus meiner Kindheit entstanden: „Abanibi obo ebew obachtaba“.
Nun verstand ich auch, warum der Song gerade bei uns Kids so sehr eingeschlagen hatte. Ein geschickter Schachzug, denn die Wortmelodie bleibt auch lautsprachlich leicht hängen. Ideal für einen Popsong! Ich war nun nach fast 40 Jahren nur noch mehr begeistert und wir wollten alle den alten Eurovisionshit anhören. Dazu zückte einer von uns sein Handy und wir suchten danach im Netz.
Während unserer Suche wurde unsere Freude aber schlagartig auf null reduziert und blieb uns in unseren trockenen Kehlen stecken: die israelische Staatsmacht hatte just an diesem Tag mit scharfer Munition auf palästinensische Demonstrant*innen an der Grenzregion zu Gaza reagiert, die gegen die Einrichtung der amerikanischen Botschaft in Jerusalem auf die Straße gegangen waren: 51 Tote und fast 1700 verletzte. Die zahlen wurden stündlich nach oben korrigiert.
Wir hörten uns den Song trotzdem an und hatten die nächsten Tagen alle den Ohrwurm. Es ist schließlich ein Lied über die Liebe und die ist alles, was uns auch im größten Wahnsinn unseres schizofrenen Daseins bleibt.

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