Bebek Café

„Gewiss leben wir in verschiedenen Welten mein Freund“, sagt Daniel. „Wo du recht hast, hast du recht. Wie können wir das verhindern? Wenn man bedenkt, wie schwer es einem fällt, sich in das Seelengerüst seines nächsten Mitmenschen einzufühlen, dann ist es doch wohl ein leichtes zu begreifen, wie schwer es ist, die Empfindungen und Emotionen auszuloten, die ganze Kulturen bewegen“.

„Ich bin begeistert von der Kunst der Polarisierung“, erwiedert Erdal. Beide sitzen gegen Abend im Bebek-Café, einen zum charmanten Szenetreff mutierten alten Kaffeehaus neben einer kleinen schmucken Moschee aus dem beginnenden 20. Jhd. Das Café befindet sich im gleichnamigen äußerst idyllischen Uferviertel, direkt an der europäischen Seite des Bosporus, der Meeresenge, die bekanntlich die Großmetropole Istanbul in Europa und Asien unterteilt. Bebek ist „das“ Nobelviertel der Stadt, an dessen Uferpromenade die Edeljachten der oberen 10.000 Türken anliegen. Es herrscht ideales Herbstwetter mit T-shirt-tragetemperaturen anfang Oktober. Im Café selber tummeln sich die Elitefreaks der Nation. Meist wohlhabende, gutausgebildete, mehrsprachige Bohemiens und Weltenbürger, Menschen, die den ganzen Tag Business machen mit ’nem Gläschen Tee in der Hand, Mobiltelefon am Ohr und sich auf der Weltkarte auskennen, wie Hochseekapitäne. Alle tragen sie die obligatorische Jeans und den ausgelassenen Freizeitlook, der dieserorts das Businessoutfit ersetzt.

Bebek Istanbul

Die Bebek-Bucht am Bosporus - Mußeort für Alltagsgauner und gehobenes Bürgertum

„Ja“ fällt daraufhin Daniel wieder ein: „Die Polarisierung – der ideale Fluchtpunkt für eine solche Stadt und ihre Bewohner. Nichts ist hier leichter zu erzeugen, als das. Z.B. braucht es nur eine etwas misslungene Papstrede und schon wird ein Passagierflugzeug der Turkish Airlines auf dem Weg nach Rom entführt. Alle Welt erwartet den blutrünstigen Racheakt eines gekränkten Fundamentalisten. Dabei ist es nur der Nachfahre von einst zum Islam zwangskonvertierten Christen, der mit der Flugzeugentführung den Vatikan auf seine persönliche schwierige Situation als Fahnenflüchtiger hinzuweisen sucht und keine Lust hat in der Armee eines muslimisch geprägten Landes zu dienen. Der Flieger wird noch am selben Abend friedlich und ohne menschliche und materielle Verluste zu Boden gebracht. Die Entführer sitzen im italienischen Gefängnis und der Medienapparat beginnt die Tagespresse peu á peu mit Gerüchten, Zitaten, Ausschnitten aus Bekennerbriefen, Verschwörungstheorien etc. zu füttern. Natürlich ist nicht ganz klar, wer, warum, weshalb. Superstory, kann man noch ein bisschen dehnen. Bam – perfekt – sitzt wie ein Ass im Ärmel“.

Daniel und Erdal sind zwei von drei, etwas verlottert aussehenden Lokalhelden, die sich gerade zu einem Tee hier getroffen haben und sich köstlichst amüsieren. Die äußere Erscheinung ist hier nicht so wichtig für Leute wie sie. Man kennt sie und weiss ihre direkte, unverblümte Art zu schätzen. Erdal ist ein Schauspieler, der sich sein Geld mit Auftritten in den landesweit recht beliebten Vorabendserien verdient, Daniel hingegen ein stadtbekannter Freak, Barbesitzer, Diamantenhändler, Hans Dampf in allen Gassen. Wenn man ihm in sein schmales verschmitztes Gesicht mit seinen stahlblauen Augen sieht und ihn unentwegt schnattern hört mit seiner hohen, aufdringlichen Stimme, dann kann man sich den kleinen Lausejungen gut vorstellen, der sich die Tage und Nächte am Ufer des Bosporus rumschlug, kreischend von den hohen Aufbauten der Fischkutter ins Wasser sprang und mit der bloßen Hand die Meeräschen aus dem Wasser holte, indem er sie schwärmeweise mit kleinen Brotklumpen anlockte.

Zu guter letzt wäre noch Ümit zu nennen, ein etwas gealterter, jedoch sehr erfolgreicher Popmusiker und Superstar mit Attitüde. Er ist nicht nur älter, sondern auch etwas erfolgreicher als die beiden anderen, was ihm anerkennende Blicke von allen Seiten einbringt, die er mit routiniert zurückhaltender Geste erwidert.

Die Unterhaltung dreht sich – wie so oft – um das Land. Man macht sich lusig, über die Bemühungen der Regierung, einen souveränen Staat vorzutäuschen. Szenarien werden am Tisch im Bebek-Café in drehbuchartigen Skizzen improvisiert. Wunderschöne tragikomische Momentaufnahmen aus der Realität dieses Planeten.

Sie leben in einer Welt, in der die Staatsreligion längst Einzug gehalten hat in alle Bereiche der Tagespolitik, der Medien und sogar den großen neuen Pop- und Modephänomenen ihre Ränge streitig macht. Es ist Fastenzeit. Der heilige Monat Ramadan verlangt den liberalen Gesellschaftsschichten – besonders den etwas populäreren Bohemiens und Künstlern – viele Entbehrungen ab. Man fühlt sich seltsam schuldig beim Essen, Trinken und Rauchen in der Öffentlichkeit. Und wenn man nichts dergleichen tut, kann man trotzdem die Frage nach der Einhaltung des Fastengebots in den Augen der Passanten lesen. Mehr als je zuvor wie es scheint.

Ümit beschwert sich über die subtile und öffentliche Allmacht der Imame und Religionsgelehrten in den Fernseh- und Radiokanälen und droht damit, wegzuziehen: „Nach Europa? Niemals! Ich war schon oft auf Tour dort. Es ist herrlich. Die Ordnung, die Ruhe, die Parkanlagen, keiner belästigt dich, keiner will dir auf der Straße was andrehen. Anfangs war es wie im Traum. Die Parks liebte ich besonders. Ich konnte stundenlang dort sitzen und lesen, die Menschen beobachten und die Muße walten lassen. Aber wenn man aus einer Stadt wie Istanbul kommt, dann wird einem das nach ein Paar Tagen zu viel. Irgendwann war ich soweit, daß ich die Leute anbrüllen hätte können: `Macht doch mal einer den Mund auf, verdammt! Wie kann man nur so lange, so still vor sich hinsitzen? Hat denn keiner was zu sagen, in diesem verfluchten Park?‘. Nein, nein mein Freund. Für mich gäbe es nur eine Alternative: New York – Amerika natürlich, was sonst?“

Ungläubiges Schmunzeln in der Runde. Es wirkt so, als hätte er das schon oft gesagt, der Ümit. Seine Klage verebbt im herbstlichen Abendhimmel an dem sich der Sonnenuntergang lange zuvor durch ein sanftes Farbenspiel ankündigt. Die Stadt der Städte ist wieder einmal zum verlieben. Also stimmen alle ein in einen Lobgesang auf ihre Heimatstadt, so als ob sie die bösen Geister, die Ümit mit seiner wehklagenden Drohung vermeintlich rief mit einer Art andächtigen Buße vertreiben wollten. Für eine kurze Zeit wird der Zynismus und das Gelächter unterbrochen durch eine fast besinnliche Stille, die sich am Tisch breitmacht.

In diesen kurzen Moment der Stille platzt nun Erol hinein, der schon von weitem mit ironischem Gezeter empfangen wird. Erol ist – laut Daniel – Professor der Alltagsgaunerei und, ebenso wie dieser, am Bosporus geboren und aufgewachsen. Er verdient sein Geld mit zwei illegalen Autoparkplätzen, die er in den Seitenstraßen des Beyogluviertels im Zentrum der Stadt betreibt und dem Handel mit Booten, Jachten und Liegeplätzen im Hafen von Bebek. Ein recht unscheinbarer, herzlicher Typ, der kein Problem damit hat, über seinen Tagesablauf und über Geld zu reden. Erol lädt die Gesellschaft auf ein bescheidenes Fischerboot ein und man beschließt, dort gemeinsam einen zu kiffen. Ümit ist das zu riskant – er hat ein Ansehen zu verlieren und will die Herzen seiner großen Anhängerschar nicht mit skandalösen Presseberichten brechen. Er verlässt die Gruppe.

Die bürgerliche Gesellschaft der Millionenmetropole geht mit Kind und Kegel an der Promenade spazieren, während der Rest der lässigen Truppe unter den überraschten Blicken der Passanten gemütlich am Ufer entlangschlendert, das am Dock anliegende Boot besteigt und es sich darin gemütlich macht. Sie sind sich ihrer Sonderrolle bewusst und geniessen sie.

Erdal, der etwas stämmige und immer etwas verkatert wirkende Schauspieler mit den kurzen, dunklen, lockigen Haaren und dem massigen Gesicht trägt eine Fischerweste über dem abgetragenen Flanellhemd, aus deren linker Tasche er eine Tüte mit Gras und den sonstigen Rauchutensilien kramt. Währenddessen hat es sich Daniel in der Kabine des Fischerbootes gemütlich gemacht, das so angetaut ist, dass man das Geschehen im inneren des Bootes von der Promenade aus nicht sehen kann.

Daniel plant eine Musikproduktion mit Ümit und einigen anderen national und international bekannten Musikgrößen. Er beschwert sich darüber, dass Ümit in der Öffentlichkeit oft als ein zum Islam konvertierter Jude bezeichnet wird, nur weil er einen etwas aussergewöhnlich westlich klingenden Nachnamen hat, zumal diese Gerüchte immer eine etwas negative Konnotation tragen. Erdal schlägt Daniel vor, dass dieser einen bekannten armenischen Perkussionisten und Sänger in sein nächstes Projekt miteinbezieht, aber dieser ist Daniel zu sehr auf die armenisch-türkische Problematik fixiert und sorgt regelmässig zu sehr für Unruhe mit seinen emotionalen Statements. „Die Volksseele ist empfindlich. Es ist eine Zeit, in der die EU-Aufnahmeverhandlungen sowieso schon soviel Staub um die Minderheitenrechte aufwirbeln. Das ist für ein kommerziell gepoltes Musikprojekt zu riskant“.

Da betritt eine zierliche weibliche Gestalt das Boot. Sie hat ihre Haare zusammengebunden und trägt eine Sonnenbrille und einen weissen Fleur um den Hals. Sie heißt Sibel und ist Grafikerin ohne feste Bleibe, die sich temporär auf dem großen Boot des Hafenbetreibers Burhan eingerichtet hat.

„Hast du den Typen jetzt endlich angerufen?“ fragt Daniel sie unmittelbar, nachdem sie es sich auf der Seitenbank gemütlich gemacht hat und einen Zug von dem Joint genommen hat, der gerade ‚rumgeht. „Nein, Daniel!“ antwortet sie mit einem verschmitzt mitleiderregenden Gesichtsausdruck. „Ich sage dir, irgendetwas passiert mit mir. Ich bin zu einer Frau geworden, die Jobs aus Willkür ablehnt, oder weil ihr die Arbeitszeiten nicht passen, und das, obwohl sie keinen Cent besitzt und eigentlich dringend arbeiten müsste. Ich bin eine verwöhnte Zicke, Daniel!“.

Daniel ist so etwas wie eine Mischung aus guter Geist und autoritärer Pate. Er fühlt sich für alles und jeden zuständig und verbringt viel Zeit damit, seinen Mitmenschen zu helfen und dadurch seine Anerkennung in der Gruppe zu festigen. Man kann eigentlich sagen, dass das sein Hauptjob ist. Er ist anfang Vierzig und wohnt in Baltalimani am Bosporus und hat einen Chauffeur, den er sich mit ein Paar Freunden teilt. Dieser Chauffeur kauft für ihn ein und kutschiert ihn duch die Gegend, wenn er mal gerade nicht mit seinem Motorrad unterwegs ist.

Wie er sich das leisten kann, weiss keiner so genau, denn er erzählt immer davon, dass er sein durch Diamantenhandel verdientes Geld immer sehr schnell wieder verprasst. Daniel entstammt einer angesehenen jüdischen Händlerfamilie. Die Tatsache, dass seine Großmutter ihm immer noch selbstgemachtes Essen in rauen Mengen nach Hause schickt, nimmt er gelassen. Diese Lieferungen sind teilweise so umfangreich, dass Daniel und seine Freundin regelmässig Freunde zum Essen einladen müssen, da sie sonst nicht wüssten, wohin mit den ganzen Leckereien. Und das Essen zurückzuschicken, würde der Oma wahrlich das Herz brechen.

„Ich werde dir mal was sagen, Mädel“ setzt Daniel zur Antwort auf Sibels Selbstbekenntnis an: „ Meine Oma sagt: Wenn du im Recht bist, steh aufrecht, aber wenn du im Unrecht bist, senke dein Haupt in Erwartung des Henkerbeils. Du musst dich leider von mir zusammenscheissen lassen, meine Gute. Hör mal: Du jammerst mich die ganze Zeit voll, dass du’n Job brauchst. Ich setze für dich sämtlichen Beziehungen in Bewegung, um dir ein Vorstellungsgespräch zu verschaffen und du antwortest mir mit so was.“ Erol mischt sich ins Gespräch ein und empfiehlt Sibel, dass sie sich als Mittellose bei der Bezirksdirektion melden soll. Er hätte das auch so gemacht und würde immer noch eine kleine Hilfe vom Staat beziehen.

Allgemeines Gelächter.

„Du hast ja gut lachen mit deinen ganzen Diamanten, die du in deinem Geheimdepot verwahrst.“, meint Erdal zu Daniel. Daraufhin folgt eine imaginäre Auflistung der Vermögensbestände aller Anwesenden, die unter gemeinsamem Gelächter fortlaufend um kleine hinzugedichtete, abstruse Details ausgeschmückt werden.

In das Gelächter fällt der 4. Gebetsruf des Muezzins. Er läutet gleichzeitig das Abendessen für alle fastenden Muslime ein. In grösseren Städten ertönt der Ruf des Muezzins immer mehrstimmig, je nach dem, wie viele Minarette gerade in Hörweite sind.

Sibel hat sich zurückgelehnt und betrachtet die Sterne. Still wird der Joint weitergereicht.

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